Drei Frauen gedenken am 9. Mai am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow der Opfer des Zweiten Weltkrieges.
Drei Frauen gedenken am 9. Mai am Sowjetischen Ehrenmal in Treptow der Opfer des Zweiten Weltkrieges. Markus Schreiber/AP

Der 9. Mai ist nicht nur in Deutschland zu einem Tag des Streits geworden. Doch dabei haben viele die Widersprüche dieses Gedenktages lange ignoriert. Durch den russischen Krieg in der Ukraine werden sie jedoch immer offensichtlicher.

Mit der Historikerin Juliane Fürst haben wir daher über die Entwicklung der Bedeutung des 9. Mai gesprochen und warum das russische Narrativ vom Tag des Sieges durch den Krieg in der Ukraine immer weniger Menschen überzeugt.

9. Mai hat in der Geschichte schon mehrere Wandlungen durchgemacht

Frau Fürst, heute wird auch in Berlin der 9. Mai begangen. Um den „Tag des Sieges“, wie er in Russland genannt wird, gab es auch in den vorherigen Jahren hier immer wieder Streit. Was ist an ihm aus historischer Sicht problematisch?

Der 9. Mai hat eine ganze Reihe von Wandlungen durchgemacht. Unter dem sowjetischen Diktator Josef Stalin wurde er so gefeiert, dass der große Woschd, also der Führer Stalin, den Sieg über das faschistische Deutschland errungen hat und das Volk ihm dabei lediglich geholfen hat. Damals hat Stalin auch die Opferzahlen bewusst niedriger angegeben und das russische Volk und die russische Erfahrung in den Mittelpunkt gestellt.

Privat/ZZF Potsdam
Juliane Fürst

Juliane Fürst ist Historikerin am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Dort leitet sie die Abteilung „Kommunismus und Gesellschaft“ zusammen mit Jens Giesecke. Derzeit arbeitet sie an einem Forschungsprojekt zur Perestroika.

Unter Chruschtschow wurde der Tag dann als arbeitsfreier Feiertag abgeschafft, aber andererseits wurden die dunklen Seiten des Krieges – die gravierenden Traumata – mit angesprochen. Die offiziellen Opferzahlen wurden nach oben korrigiert. Erst Breschnew ließ den Kult des „Großen Vaterländischen Krieges“ dann wieder aufleben oder besser erfand ihn neu. Die Symbole haben dabei immer wieder gewechselt.

Viele Opfer wurden ausgeblendet

Vor allem in den anderen Staaten, die einst von der Sowjetunion besetzt waren, wird er aber zum Großteil abgelehnt und gar nicht begangen. Wie kommt das?

Viele frühere Bürger der Sowjetunion haben sich im Gedenken zum 9. Mai nicht wiedergefunden. Mit dem Tag des Sieges werden auch immer die Jahreszahlen 1941 bis 1945 verbreitet, aber dieses Narrativ trifft für weite Teile der Sowjetunion nicht zu. Der Krieg hat für das Baltikum oder die Westukrainie nicht erst 1941 angefangen.

Dort fing der Krieg nicht nur früher an, sondern hörte auch später auf, zum Teil ging er bis weit in die 1950er Jahre hinein. Auch der Holocaust wurde in der Sowjetunion nicht als solcher thematisiert, sondern ging meist in einer allgemeinen Beschreibung ‚Opfer des Faschismus‘ auf. Viele Menschen, die entweder als Ostarbeiter verschleppt wurden oder sich unter deutscher Besatzung befanden, waren in der Sowjetunion lange Zeit Bürger zweiter Klasse.

Unter Stalin durften Leute mit solchen Biographien oft nicht studieren, nicht in verantwortungsvollen Posten arbeiten usw. Das änderte sich erst gegen Ende der 1960er Jahre. Auch die Erfahrung von Frauen, ethnischen Minderheiten und anderen, die nicht ins offizielle Bild passten, wurde lange ausgeblendet.

Kriegsverbrechen in der Ukraine bringen alte Tabuthemen wieder ans Licht

Der 9. Mai ist ja schon lange ein Propagandafest, doch durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist der Tag nun vollkommen zu einem Streitobjekt verkommen. Was hat der Krieg in der Ukraine am Gedenktag verändert?

Russland hat lange Konflikte und Kontroversen, die die sowjetische Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg mit sich gebracht hat, geleugnet oder ignoriert. Doch durch die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine werden diese Geschehnisse, vor allem die Kriegs- und Nachkriegsdeportationen und die Gewalt und Willkür der sowjetischen Besatzung in Osteuropa nun wieder häufiger thematisiert.

Und wie schon unter Stalin darf man auch heute nicht die Bilder der in der Ukraine gefallenen Soldaten auf den Märschen zeigen, denn das würde zeigen, wie viele Opfer der Krieg Russland kostet. Für viele Menschen legt das Gedenken die Diskrepanz zwischen dem moralischen Anspruch dieses Feiertages und der Wirklichkeit offen.

Die Berliner Polizei kontrolliert einen Besucher des Gedenkens am Treptower Park.
Die Berliner Polizei kontrolliert einen Besucher des Gedenkens am Treptower Park. Markus Schreiber/AP

Sie meinen, dass es schwieriger wird, Russland als moralische Instanz in der Welt darzustellen?

Es ist schwer, das russische Narrativ des Krieges gegen die Ukraine ohne internationale Unterstützung aufrechtzuerhalten. Selbst die engsten Verbündeten Russlands unterstützen diesen Krieg nicht explizit und betonen, dass auch sie für Frieden sind. Im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg ist das ein großer Unterschied, da die Sowjetunion damals von den anderen Alliierten unterstützt und ihr Kampf als gerechtfertigt angesehen wurde. Der sowjetische Kampfruf ‚Unsere Sache ist die Gerechte‘ hatte damals einen großen Widerhall weltweit.

Gedenken heute ist persönliche Entscheidung

Kann der 9. Mai noch alle Russen und ihre Freunde rekrutieren?

Viele Russen, die ich kenne, gehen wegen der Vereinnahmung durch die russische Propaganda schon seit Jahren nicht mehr zu den offiziellen Feiern. Sie finden es unangebracht für die eigene Erinnerung. Aber mein Bekanntenkreis ist nicht unbedingt repräsentativ. Wie man diesen Tag heutzutage begeht, ist eine persönliche Entscheidung und hat viel damit zu tun, wie man zum Putin-Regime steht.

Man sollte jedoch nicht vergessen, dass dieser Tag sehr wohl einen ernsten Kern hat – aber gerade deshalb steht er jetzt in so krassem Gegensatz zu dem, was in der Ukraine passiert. Es ist dieser Widerspruch zwischen dem hohen moralischen Anspruch, die Welt vom Faschismus gerettet zu haben, und den Kriegsverbrechen, die jetzt von der Armee begangen wird, die sich in der Nachfolge der Roten Armee sieht, der letztendlich diesen Tag heute so kontrovers macht.

Wird es den Gedenktag in den kommenden Jahren so noch geben?

Ich nehme an, dass wegen dieses offensichtlichen Widerspruches der Tag umgedeutet wird oder langsam aber sicher seine Bedeutung auch für Russland verlieren wird. Er ist schon jetzt nicht mehr der vereinigende Faktor, der er noch vor circa 10 Jahren war. Im Gegenteil, er polarisiert auch innerhalb Russlands.

Wir danken Ihnen für das Gespräch.