Kreuzberger Graefekiez streicht alle Parkplätze: DAS sagen die Anwohner!
Im Kreuzberger Graefekiez sollen Anwohner ihre Autos nicht mehr vor der Tür abstellen, sondern in einem Parkhaus am Hermannplatz. Nicht alle finden die Idee toll.

Wer am Bahnhof Schönleinstraße aus der U-Bahn der Linie 8 steigt und den Nussduft tief einatmet, der dort aus der Rösterei an der Ecke strömt, dem wird es warm um die Nase, der wähnt sich nicht in einer Großstadt, wenn er die Augen schließt, sondern in einer Art zimtigen Bullerbü. Allerdings müsste man dazu auch die vielen Autos ausblenden, die hier stehen und fahren. Genau dies soll im angrenzenden Graefekiez geschehen: Autos ausblenden, sie aus dem Straßenland weitgehend verbannen.
Stadtversuch in Kreuzberg: Autos parken anderswo
Ein Stadtversuch der Bezirkspolitik aus Grünen und SPD will alle Parkplätze auf den Straßen im Graefekiez weitgehend tilgen. Zunächst ein halbes Jahr lang soll der Versuch, der noch in der BVV beschlossen werden muss, andauern. Zuvor sollen die Bewohner des Kiezes befragt werden.
Lebendig, bunt und multikulturell – so wird das Gebiet zwischen Kottbusser Damm, Urbanstraße und Grimmstraße in den Reiseführern beschrieben. Als verkehrsberuhigte Zone ausgewiesen, haben Autos hier an vielen Stellen sowieso schon längst nicht mehr die Oberhand. Dennoch stehen sie an den Bürgersteigen vor den prächtigen Gründerzeithäusern, parkende Karossen dicht an dicht. Auch die Bulli-Dichte ist auffällig. Man kann den Bewohnern also einen Hang zum Leben im Grünen unterstellen. Dennoch sitzen vor den Cafés die Menschen auf Stühlen und Hockern und gucken vielerorts auf stehendes Blech.
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Kreuzberger Mischung aus Autos, Fußgängern, Radfahrern und anderen Gefährten
An der mittwochs eingerichteten Spielstraße in der Böckhstraße dreht die Fahrschule an der Sperr-Bake unendlich langsam um, auf der Suche nach einem Parkplatz schleicht so mancher mehrere Runden. Sieben bis zehn Kilometer pro Stunde dürfen Autos hier nur fahren. Die meisten Autos aber stehen. Geht es nach den Plänen der Bezirkspolitik sollen die Anwohner ihre Wagen daher künftig in einem Parkhaus am Hermannplatz abstellen, anstatt vor der Haustür. Wo, wenn nicht hier, wo sie sowieso maximal runtergebremst sind, sind Autos überflüssig?
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„Ich finde die Idee großartig“, sagt Lucia Seldeneck. Ihre Familie hat schon vor einem Jahr das Auto abgeschafft und es funktioniert gut. „Ich würde den Versuch wirklich gern erleben“, sagt die 44-Jährige. Er sei ein guter Weg, den Leuten zu zeigen, dass es auch ohne Auto geht. Wenn das Fahrzeug weiter weg steht, dann überlege man zweimal, ob man es wirklich benutzen wolle. Die Idee, statt des eigenen Wagens Plätze für Mietautos im Kiez bereit zu halten, findet Lucia Seldeneck gut. „Man begegnet sich auf einer Straße ohne Autos ganz anders“, sagt sie. Beobachten lässt sich das mittwochs auf der temporären Spielstraße, die Kinder erobern sich den Raum im Nu. Auch für das Auge ist eine Straße ohne Autos ein ganz neues Erlebnis.

Auch der Radhändler auf der Dieffenbachstraße besitzt kein eigenes Auto, ihn stört das Experiment um die Neuaufteilung von städtischem Raum daher nicht sonderlich. Er befürchtet nur, dass weniger Menschen herkommen: seit die Poller da sind und die Huckel auf der Fahrbahn, die zum langsam fahren ermuntern, sei es ruhiger in der Gegend geworden. Überhaupt geht der Meinungsriss oft entlang der Kante Anwohner / Händler.
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Auf engem Raum leben im Graefekiez 20.000 Menschen, die Hälfte davon mit Migrationshintergrund. Es gibt Schulen, deren Schüler an diesem Mittwoch ihre Zeitung an Passanten verkaufen, es gibt Galerien, Bars, kleine Läden, aber auch Handwerk.
Was dazu führt, dass Antje, die Verkäuferin im Edeka an der Ecke, die ganze Sache mit äußerster Skepsis betrachtet. „Wie sollen denn dann die Leute, die hier arbeiten, herkommen?“, fragt sie sich. Schon jetzt sei die U-Bahn zu Stoßzeiten voll.

Auch der Glaser Randolph, der hier seine schweren Scheiben verladen muss, sieht kaum Vorteile in einem Kiez ohne Parkplätze. „Irgendwo müssen wir doch stehen“, sagt er. Fürs Beladen und Entladen soll es im Graefekiez zwar extra eingerichtete Zonen geben. Dennoch: „In ganz Berlin sehen sich Handwerker vor dem immer gleichen Parkplatz-Problem.“
Händler fürchten um ihre Geschäfte im Graefekiez
Die Blumenhändlerin Eva ist noch nicht ganz entschieden. Sie denke darüber nach, was es bedeutet, wenn hier keine Autos mehr parken. Die 60-Jährige hofft immerhin auf mehr Flaneure, mehr Platz für Grün, den sie sich vor dem Laden schon geschaffen hat.

Im Antiquariat Umbra nebenan brummelt der Inhaber hinter den Bücherbergen, dass Berlin es eben einfach nicht drauf habe. Anderswo seien autofreie Straßen längst eingerichtet. „In Hamburg schaffen sie es, in Freiburg schaffen sie es.“ Aber in Berlin mache man immer einen Riesenaufriss und dann kriege man es nicht hin. Wenn es nach ihm, dem Bücherfreund und Ex-Lastwagenfahrer ginge, wäre der Kiez längst autofrei. „Ich habe seit 15 Jahren kein Auto mehr“, dröhnt es aus dem schummrigen Reich der Bücher.
Anwohner: Unser Auto kommt weg
Was der Antiquar schon längst lebt, steht für den Kiezbewohner Bodo Pahlke noch aus. Er hat eigentlich nichts gegen Autos, aber gedanklich sagt er dem Familienauto schon mal Tschö. Und er hat gute Argumente: So ein Auto steht die meiste Zeit, die Platzverteilung im öffentlichen Raum ist einfach unfair. Ältere, Behinderte, Arme, Kinder, sie alle könnten den Platz, den die Autos wegnehmen viel besser gebrauchen. „Es kann nicht funktionieren, dass jeder Haushalt sein Auto vor der eigenen Haustür parkt“, sagt er. Die Frage sei, wie wir in Städten leben wollen, wie wollten die Gruppen leben, die normalerweise keiner frage. „Immer wenn Privilegien abgebaut werden, haben einige Menschen etwas dagegen. Wenn wir den vorhandenen Raum gerechter nutzen wollen, müssen wir damit leben“, sagt Pahlke.

Je länger man im Kiez unterwegs ist, desto machbarer scheint die Idee, es hier ohne Autos zu versuchen. Bei einer Befragung hat sich eine Mehrheit dafür ausgesprochen, allerdings haben auch nur knapp über 1000 Menschen mitgemacht. Es kommt etwas in Gang in den Berliner Kiezen, ausdiskutiert ist die neue Berliner Mischung aber noch lange nicht.

Am Zickenplatz, Ecke Schönleinstraße, dem Eingangsplatz zum Graefekiez steht seit Jahren ein verrosteter Opel Olympia Caravan. Moos wächst auf dem 63 Jahre alten Gefährt. Langst ist das Auto eine Kreuzberger Sehenswürdigkeit. So pittoresk verwittert sind Autos schon wieder Kunst. Alle anderen können weg.