Häusliche Gewalt in Zeiten von Corona: „Alle Befürchtungen wahr geworden“
Die Anzahl der in Berlin gemeldeten Fälle ist seit März drastisch in die Höhe geschnellt. Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder, sagt Justizminister Dirk Behrendt.

Ein zertrümmertes Mittelgesicht, Frakturen des Jochbeins, ein kaputtes Nasenbein, Angriffe gegen den Hals. Die Fälle, die die Ärzte der Berliner Gewaltschutzambulanz seit dem Ende des Lockdowns meist bei misshandelten Frauen behandeln mussten, sind furchtbar, die Verletzungen schwerer als zu „normalen Zeiten“. Das sagt Saskia Etzold, die Leiterin der Berliner Gewaltschutzambulanz, an diesem Donnerstag. Die Corona-Pandemie habe zu einem spürbaren Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt geführt und zu deutlich schwereren Verletzungen. „Alle Befürchtungen, die wir am Anfang der Pandemie hatten, sind wahr geworden“, erklärt die promovierte Rechtsmedizinerin.
So kamen im ersten Halbjahr 783 Opfer in die Ambulanz, um ihre Verletzungen gerichtsfest dokumentieren zu lassen. Im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres waren es 727 Fälle, ein Jahr zuvor suchten 703 Menschen die Gewaltschutzambulanz auf. 20 Prozent der Opfer seien Kinder oder Jugendliche. Bei den Erwachsenen seien meist Frauen von häuslicher Gewalt betroffen.
Justizsenator: „Corona hat vor allem Frauen und Kinder hart getroffen“
In Zeiten des Corona-Lockdowns wurde in der Hauptstadt in den eigenen vier Wänden mehr geprügelt als in den Jahren zuvor. Es habe auch deutlich mehr entsprechende Anzeigen gegeben, sagt Berlins Justizsenator Dirk Behrendt. „Corona hat vor allem Frauen und Kinder hart getroffen“, sagt der Politiker der Grünen. So stieg die Zahl der eingeleiteten Strafverfahren im Bereich der häuslichen Gewalt mit den ersten Lockerungen allein im April um rund 50 Prozent auf 1565 Fälle, im Jahr zuvor wurden 1089 Verfahren angezeigt.
Dabei wurden zu Beginn der Corona-Einschränkungen im März zunächst weniger Fälle von Gewaltstraftaten im eigenen Heim registriert – sogar um 24 Prozent. Saskia Etzold führt das darauf zurück, dass die Straßen damals wie leergefegt waren und sich die Opfer nicht mehr aus dem Haus trauten. „Entweder, weil der Partner plötzlich nicht mehr zur Arbeit musste oder früher nach Hause kam“, sagt die Rechtsmedizinerin. Die Zahl der in der Ambulanz behandelten misshandelten Frauen und Kinder sei seit Ostern dagegen massiv gestiegen. „Damals gab es die ersten Lockerungen“, erklärt Etzold.
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20 Prozent der Gewaltopfer sind Kinder und Jugendliche. Zu Beginn der Corona-Pandemie gab es auch hier weniger registrierte Fälle von Misshandlungen. Nicht, weil die Mädchen und Jungen nun nicht mehr verprügelt worden seien, wie Saskia Etzold sagt. Vielmehr hätten mit den massiven Kontaktbeschränkungen die sozialen Kontrollinstanzen wie Tagesmütter, Kitas oder Schule gefehlt, die während des Lockdowns ihre Arbeit einstellen mussten.
Doch seitdem Kinder wieder in die Schule oder die Kita gehen, gibt es nach Etzolds Angaben sehr viele Anzeigen wegen Gewalt gegen Mädchen und Jungen. „Wir haben vermehrt Fälle, in denen Kinder mit einem Gürtel oder Kabel verprügelt wurden“, sagt Etzold. Darunter seien Säuglinge, aber auch junge Menschen, die kurz vor der Volljährigkeit stünden.
Angst vor sozialem Abstieg begünstigen Gewalt
Etzold führt den Anstieg der Gewalt auf die Angst vor der Pandemie zurück und damit auf die Angst vor dem sozialen Abstieg. Viele Menschen hätten ihren Job verloren oder seien in Kurzarbeit geschickt worden. „Angst vor dem sozialen Abstieg und finanzielle Probleme begünstigen Gewalt.“
Geprügelt wird nach Etzolds Angaben in allen sozialen Schichten, sowohl im Plattenbau als auch in der Villa. „Nur, dass man bei Kindern aus reichen Familien vielleicht nicht so intensiv hinschaut. Weil Vater oder Mutter sagen, das blaue Auge habe sich ihr Sprössling beim Tennis zugezogen.“ Sie plädiert dafür, aufmerksamer zu sein.
Seit sechs Jahren gibt es die Gewaltschutzambulanz. In all der Zeit habe sie noch nie erlebt, dass sich Kinder und Jugendliche so oft wie derzeit selbst an die Polizei gewandt und um Hilfe gebeten hätten, sagt die Medizinerin. Etzold geht davon aus, dass in ihrer Ambulanz nach den Ferien noch mehr Kinder vorstellig werden. „Wie eigentlich immer nach der schulfreien Zeit, in der niemand da ist, der hinschaut.“