Haben Bürger im Osten Berlins weniger Rechte?
Diese provokante, aber berechtigte Frage stellen Mitglieder des Berliner Bündnisses für Nachhaltige Stadtentwicklung. 27 Initiativen in den Berliner Kiezen haben sich darin zusammengeschlossen um gegen wahllose und in ihren Augen rechtlich nicht zulässige Nachverdichtung in Wohnvierteln zu kämpfen.

Haben Bürger im Osten Berlins weniger Rechte? Mehr als 100 Wohnanlagen in Berlin sollen nachverdichtet werden. Im Westen der Stadt sind dafür Bebauungspläne nötig, im Osten aber nicht. Mieter halten das für eine rechtswidrige Praxis.
Das Berliner Bündnis für Nachhaltige Stadtentwicklung fordert daher einen temporären Nachverdichtungsstopp für den Osten Berlins, bis die Rechtslage geklärt ist.
Das Bündnis hat derzeit 27 Mitgliedsinitiativen. Von diesen sind 20 von der Nachverdichtung ihrer Wohnanlage, dem Verlust von mitgeplanten und mitgebauten grünen Sozialflächen mit Bäumen und Spielplätzen betroffen. Von den 20 betroffenen Initiativen befinden sich 16 im Osten der Stadt. In einem offenen Brief schildern die Initiativen die rechtliche Lage aus ihrer Sicht:
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Die Nachverdichtung der Wohnanlagen findet im Ostteil in den allermeisten Fällen nach Paragraf 34 Baugesetzbuch (BauGB), dem sog. Lückenschlussparagrafen, statt. Der sei nach dem Krieg eingeführt worden um entstandene Baulücken zu schließen.
Frei nach dem Motto: links ein Gründerzeithaus, rechts ein Gründerzeithaus, in der Mitte war mal ein Gründerzeithaus, dass jetzt in Schutt und Asche liegt. Wer könnte was dagegen haben, wenn in dieser Lücke ein neues Haus entsteht, dass sich an die Gebäude links und rechts anpasst?
Der ganze Osten eine einzige Baulücke
Als ebensolche Baulücke wird aber seit der Wende der ganze Osten Berlins behandelt, argumentieren die betroffenen Mieter. Alles sei „unbeplanter Innenbereich“, also ein Bereich in der Stadt, für den es nie vorher Planungen gegeben habe. Dass dies Unfug ist, belegen Pläne in den Archiven, aus der Zeit vor der Wende. Wohnanlagen wurden geplant, inklusive grüner Innenhöfe und Spielplätze. Für die in den 50er bis 70er Jahren geplanten Wohngebiete wurde eine soziale Infrastruktur mitgedacht, Kaufhallen, Kindergärten, Schulen, Waschhäuser, Friseur, Freizeiteinrichtungen. Es entstand eine gewachsene Struktur des Kiezes und der Bewohner.
„Viele unserer Initiativen haben in den Berliner Archiven die Bebauungspläne ihrer Wohnanlagen gefunden, samt Mit-Planungen der Straßen und Wohnwege und der Grün- und Spielflächen.“
Übergang zur Wende nicht eindeutig geregelt
Mit der Wende wird es kompliziert: Die Bürgerinitiativen sind der Auffassung, dass das Baugesetzbuch mit der deutschen Einheit im Oktober 1990 wirksam wurde. Und leiten daraus ab, dass auch alle früher verbindlichen Bauleitlinien Ostberlins übergeleitet wurden.
„Die Behauptung, die Wohngebiete und Großsiedlungen im Ostteil der Stadt seien „unbeplante Innenbereiche“ und deshalb nach Paragraf 34 bebaubar, sehen wir als falsch an“, schreiben sie.
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Um genau durchzusteigen muss man nun noch tiefer in die Materie, mit der sich Fachleute auseinandersetzten sollten, wie die Bürger fordern. Am Ende geht es um wenige Tag im Juli 1990. Am letzten Julitag 1990 machte in den Bezirken der DDR eine Verordnung (die Bauplanungs- und Zulassungsverordnung) die Weitergeltung früherer, verbindlicher Bauleitlinien von der Zustimmung der Gemeinden abhängig.
Die Stadtverordnetenversammlung von Berlin hatte aber den Stadtbezirken schon am 23. Juli 1990 eine Verfassung gegeben. Das machte das Kommunalverfassungsgesetz der DDR von Mai 1990 in Berlin unanwendbar. Die Regelung, dass die Gemeinden einer Überleitung hätten zustimmen müssen sei hinfällig, so die Argumentation. Folglich sind die früheren Bauleitplanungen automatisch, also auch ohne die Zustimmung der Gemeinde, übergeleitet worden, schreiben die Mieter.
Im Nachgang sei es zuerst Stadtbaudirektor Hans Stimmann gewesen, „der vor 30 Jahren Berlins ganze Mitte zur Baulücke erklärte, um Grundstück für Grundstück an Investoren aus aller Welt preiszugeben.“
Ungleiche Regelungen in Ost und West sind ein Skandal
Ein Skandal sei es, dass die Regierungsparteien diese rechtlich haltlose Auffassung ungleichen Bauplanungsrechts im Westen und Osten der Stadt zur Grundlage ihrer Bau-Klotz-Politik der Nachverdichtung machten.
Bausenator Andreas Geisel lehnt einen Baustopp ab, wie der Tagesspiegel schreibt, das Bezirksamt Pankow räumt hingegen eine ungleiche Rechtslage in Ost und West ein und will selber mehr Bebauungspläne anstreben. In einem Fall, im Pankower Schlosspark Kiez konnten sich Mieter so einer Nachverdichtung erwehren. Die Bürgerinitiativen fordern nun das Abgeordnetenhaus Berlins auf, den rechtlichen Sachverhalt zu prüfen.
Jeder Bürger Deutschlands habe schließlich das gleiche Recht auf geordnete Planung seines Kiezes, seiner Stadt nach den vorhandenen Bedürfnissen. Mit gesetzlich festgeschriebener Bürgerbeteiligung, mit Umweltgutachten, Verkehrsgutachten, Gutachten über die grüne und soziale Infrastruktur des Kiezes und das Weiterentwickeln all dieser Strukturen; erst Recht angesichts neuer Herausforderungen, wie sie Pandemie und Klimawandel mit sich brächten.