Gute Schule braucht Zeit
„Schule muss anders“, fordert eine Initiative. Einer der Gründer ist Philipp Dehne, er hat seinen Lehrerjob vor zwei Jahren an den Nagel gehängt.

Von der nahe gelegenen Schule hört man, wie jemand Klavier übt und über die ersten drei Töne des Stücks nicht hinauskommt. Im Gebüsch liegt das Skelett eines Motorrollers. Auf dem Schulhof brüllt der Fußballnachwuchs: „Handspiel, du Spinner!“, als Philipp Dehne mit einer Ikea-Tüte zum Treffpunkt in Neukölln kommt. In der Tüte trägt er Spray-Schablonen mit dem Slogan, der im Berlin Wahlkampf noch oft zu hören sein soll: „Schule muss anders“ steht da in Neonorange. Wie muss Schule denn, Herr Dehne?
Um eines vorweg zu sagen: Philipp Dehne, 37 Jahre alt, ist derzeit weder Lehrer noch Vater eines Schulkindes. Seinen Job an einer Kreuzberger Schule hat er schon vor zwei Jahren an den Nagel gehängt. Zuvor aber hatte er sechs Jahre Zeit, an dem System, das er und die wachsende Schar seiner Mitstreiter nun umkrempeln wollen, zu verzweifeln. „Am Ende habe ich mich gefragt, was mache ich hier eigentlich?“, sagt Dehne über seine Zeit als Lehrer. „Mache ich gute Bildungs- und Beziehungsarbeit oder verwalte ich bloß einen Missstand? Und damit meine ich natürlich nicht die Kids.“
„Schule muss anders gedacht werden“, sagt er, „von den Schülern her.“ Während des Gesprächs walzen breitbeinig Halbstarke vorbei und rufen: „Die Fahrscheine bitte.“ Dehne erinnert sich an seine Zeit als Lehrer. Von den 24 Schülern in seiner Klasse hätten 14 einen erhöhten Förderbedarf attestiert bekommen. „Kann ich so allen Schülern gerecht werden?“ fragt er. Nein. An der Diskrepanz zwischen Wollen und Können geht Bildungsgerechtigkeit verloren.
Aber nicht nur Schüler mit erhöhtem Förderbedarf, so fordern es Dehne und seine Mitstreiter, sondern alle Schüler brauchen mehr Zeit: mehr Zeit für sich und die Beziehungsarbeit, mehr Räume zum Ausprobieren, weniger Prüfungsstress.
Dehne spricht schnell, als er aufzählt, was alles an Berliner Schulen fehlt, viel mehr, wer alles fehlt: Psychologen, Handwerker, Erzieherinnen, Dolmetscher. Kurz, verschiedene Berufsgruppen. Warum nicht Lehramtsstudenten als Unterrichtsassistenz an die Schulen holen, Theaterpädagogen, Ergotherapeuten? Warum nicht Schulen zu interdisziplinären Zentren für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen machen? Schule muss sich öffnen, so eine der Forderungen der Initiative.
Gute Konzepte entstehen nicht nebenbei. Ebenso wenig wie gute Beziehungen. Auch dafür braucht es fest eingeplante Zeit. Zeit für Teamarbeit und Schulentwicklung. Gelingende Schule sei derzeit wie bei einem Münzwurf: die einen machen es, die anderen nicht, so Dehne. An den Berliner Schulen finde Segregation statt. „Ja, es gibt Schulen, wo den Kindern die fehlende Unterstützung noch viel mehr fehlt als anderswo“, so Dehne.
Gute Schule braucht mehr Lehrer
Daher brauchen die neuen Schulen, von denen viele im Wahljahr träumen, mehr Lehrer. „Und weil die Ausbildung von Lehrern so lange dauert, müssen wir jetzt anfangen“, so Philipp Dehne. Es sei oft nicht das Gehalt, was junge Lehrer abwandern lässt, sondern die Arbeitsbedingungen an den Berliner Schulen. An einer Vorortschule in Niedersachsen zu unterrichten, wirkt für einige stressfreier als an einer Berliner Kiezschule.
Der Personalmangel an Berliner Schulen wird sich weiter verschärfen. Laut Senatsprognosen verlassen bis 2027/28 rund vierzig Prozent der Berliner Lehrkräfte den Schuldienst. Doch die Stadt wächst und die Schülerzahlen steigen. Wer dann noch bessere Bildung gestalten will, braucht mehr Personal. Nach Prognosen der Senatsbildungsverwaltung müsste Berlin bis zum Schuljahr 2027/28 insgesamt 15.700 neue Lehrkräfte in Vollzeit einstellen.
Schon das wird Berlin mit der geringen Zahl an Absolventen nicht schaffen. Und bei den qualitativen Verbesserungen, wie die sie Initiative fordert, reichen die Lehrer, die nachkommen, dann lange nicht aus: Wenn man zusätzliche Unterstützung für Brennpunktschulen einplant, dort die Klassen verkleinert, feste Teamstunden für alle Lehrkräfte einführt, eine einstündige Entlastung für Klassenleitungen, eine kleine Vertretungsreserve sowie einen Stundenpool von zehn Stunden pro Woche für Schulentwicklung.
Über den Landesschulbeirat hat „Schule muss anders“ nachfragen lassen, wie viele Lehrkräfte man bräuchte, wenn man die genannten Verbesserungen umsetzen wollte. Sage und schreibe 25.000 neue Lehrkräfte müsste Berlin dann in den nächsten Jahren einstellen. Das sind ca. 3000 pro Jahr, rechnet die Initiative. Doch laut „Schule muss anders“ verlassen derzeit nur 900 Lehramtsstudenten die Berliner Unis.
Zielvorgaben in den Koalitionsvertrag
Daher die konkrete Forderung: „Wir wollen im Koalitionsvertrag vereinbart wissen, dass jährlich 3000 Lehramtsstudierende von den Hochschulen entlassen werden und diese Zahl 2022 bei der Verhandlung der neuen Hochschulverträge verankert wird. Natürlich muss man auch dafür sorgen, dass die Universitäten ausreichend unterstützt werden, um diese Aufgabe umsetzen zu können.“ Auch für Erzieherinnen und Sozialarbeiter sollen konkrete Zielvorgaben definiert werden, fordert die Initiative.
Die Pandemie habe gezeigt: Es geht viel, wenn der politische Wille da ist, so Dehne. Jetzt müsse der Druck für echte Veränderungen wachsen. „In der kommenden Legislatur wird in vielen Bereichen investiert werden müssen, zum Beispiel in Wohnen und Pflege“, sagt Philipp Dehne. Unbedingt sei man für ein Sowohl-als-auch. Nur dürfe es eben nicht wie in der Vergangenheit geschehen, dass ausgerechnet die Bildung unter dem Spardruck in die Knie geht. Denn ebenso wie die Pandemie gezeigt habe, was gehe, habe sie auch offenbart, was alles im Argen liege. Inklusion in der Schule zum Beispiel ist zwar ein Recht, in Berlin allerdings noch viel zu oft nur auf Papier. Auch hier bedarf es großer Anstrengungen, weswegen „Schule muss anders“ eine garantierte Teilhabe fordert.
„Wir müssen aufhören, immer nur Löcher zu stopfen und uns endlich trauen, Grundlegendes zu verändern“, sagen Lehrer, Eltern und Schüler. „Wenn wir nicht noch weitere zehn Jahre in einem Mangelsystem Bildung leben wollen, das viele Menschen ausschließt, müssen wir jetzt anfangen zu handeln.“ In dieser Woche findet eine Aktionswoche der Initiative statt, die auch vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion, den Berliner Bürgerplattformen, der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Lehramtsinitiative Kreidestaub unterstützt wird. An zahlreichen Schulen sind Protestaktionen geplant. Krönender Abschluss wird eine Demonstration auf dem Hermannplatz in Neukölln am 5. Juni sein.