Große Versprechungen, nicht gehalten: Immer noch Schulgeld für Ausbildung zu Heilberufen
Geld ist endlich da, aber die Formalien dauern und dauern, bis die Azubis von den Kosten entlastet werden

Es ist der Fluch der großen Klappe. Im August 2021, wenige Wochen vor der Abgeordnetenhauswahl, tönten Abgeordnete der drei Koalitionsparteien SPD, Linke und Grüne: „Berlin übernimmt Schulgeld für Therapieausbildung.“ Ausbildungen zu Gesundheits-Fachberufen würden „ab dem kommenden Jahr schulgeldfrei“. Stimmte nur leider nicht. Noch immer müssen Menschen, die beruflich Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie oder Podologie (Heilkunde am Fuß) betreiben wollen, Schulgeld zahlen. Weiterhin diejenigen, die Pharmazeutisch-Technische Assistenten, Masseure oder medizinische Bademeister werden wollen.

Anja Arakelyan (43) zählt zu den Frauen und Männern, die trotz der Versprechungen noch zahlen müssen, was sie in große Schwierigkeiten bringt. Sie war früher im Einzelhandel selbständig, die weitere Lebensplanung scheiterte aber mit ihrer Ehe, und so suchte sie eine neue berufliche Aufgabe. Ergotherapie, ein Beruf, der Patienten eine breite Palette von Hilfen andient, das war es für sie: „Das ist für mich Berufung, dafür brenne ich.“
Eigentlich hatte die alleinerziehende Mutter einen kostenlosen Kurs in Leipzig gefunden, weil der Freistaat Sachsen die Ausbildung von Gesundheits-Fachberufen bereits kostenfrei gestellt hatte.
In Sachsen wäre die Ausbildung zur Ergotherapeutin ohne Schulgeld möglich gewesen
Das sächsische Angebot ließ Anja Arakelyan mit der Aussicht auf eine kostenlose Ausbildung auch in Berlin sausen – und sitzt jetzt auf 350 Euro Schulgeld pro Monat für die dreijährige Ausbildung.
Sie hatte sich ausgerechnet, mit ihrem Ersparten und dem Geld aus einem 450-Euro-Job als Sachbearbeiterin in einer Versicherung halbwegs über die Runden zu kommen.
Das wird jetzt kaum gelingen, zumal sie in der Ausbildung auch noch knapp 200 Euro für eine freiwillige gesetzliche Krankenversicherung berappen muss: Mit dem Mini-Job allein wäre das nicht nötig gewesen. Und dann ist da noch die Miete, die zum Glück mit 525 Euro warm in Erkner nicht übermäßig teuer ist.
Auszubildender wird Kredit aufnehmen müssen, um für das Schulgeld aufkommen zu können
Ihr Kollege Martin Piest (33) sagte dem KURIER, er werde einen Kredit aufnehmen müssen, um die Ausbildungskosten bestreiten zu können. Der Einzelhandelskaufmann, zuletzt im E-Commerce tätig, hatte den Beruf aufgegeben: „Der erfüllte mich nicht, das wollte ich nicht bis zur Rente machen.“
Wie Arakelyan fing er im April mit der Ausbildung zum Ergotherapeuten an, nachdem er sich wegen der Pressemitteilung und der Erwartung einer sofortigen Kostenfreiheit beworben hatte. „Ich setze meine Ersparnisse ein, weil ich gegenwärtig von Hartz IV lebe.“
Nun mache auch noch das Jobcenter Probleme: „Das hat mir erst zugesagt, die Ausbildung zu bezahlen, dann zurückgezogen und fordert jetzt, dass ich BAföG beantragen soll. Ich habe jetzt die BAföG-Bedingungen ans Jobcenter geschickt und darauf markiert, dass ich dafür zu alt bin.“
Anja Arakelyan ist unterdessen zum Sprachrohr all derjenigen geworden, die mit ihr in einer Heinersdorfer Ausbildungsstätte unter anderem zu Ergotherapeuten ausgebildet werden. Sie und verschiedene andere Schulgeld-Bestrafte fragten bei der Senatsverwaltung für Gesundheit und verschiedenen Abgeordneten nach, was denn nun sei mit der Zahlungsbefreiung.

Viele Beschwerden bei der Gesundheitssenatorin über Schulgeld
Der CDU-Abgeordnete Christian Zander erfuhr im Mai in einer Ausschusssitzung von Gesundheitssenatorin Ulrike Gote (Grüne), dass es noch dauere, dass eine rückwirkende Zahlung nicht möglich sei, und dass es viele Beschwerden gebe. Drei FDP-Abgeordnete wollten es daraufhin noch genauer wissen, sie stellten eine parlamentarische Anfrage. Gotes Haus antwortete am 20. Juni, dass rückwirkende Zuwendungen nicht möglich seien.
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Die FDP-Fachfrau Maren Jasper-Winter, die sich besonders für den dringend benötigten Nachwuchs bei Physiotherapeuten einsetzt: „Physiotherapieschüler müssen in Berlin immer noch Schulgeld zahlen. Schon heute fehlen Physiotherapeuten und dies macht den Beruf nicht attraktiver. Die FDP hat daher bereits 2021 beantragt, dass Berlin das Schulgeld übernimmt - so wie in anderen Bundesländern. Dies lehnte Rot-Rot-Grün in den Ausschüssen ab, obwohl die Gesundheitsverwaltung das Geld für 2022/2023 bereits im Haushalt eingeplant hatte.“
Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf, und die Schuldzuweisungen auch.
Die SPD-Abgeordnete Bettina König schrieb an Anja Arakelyan, dass der alte Senat im August 2021 zugesagt habe, die Schulgelder künftig zu übernehmen. Dafür sei in den Entwurf für den Haushalt 2022/2023 ein neuer Titel mit den nötigen Mitteln eingefügt worden. „Nach Beschluss über den Haushalt sollten diese rückwirkend zum 1. Januar 2022 ausgezahlt werden.“ Die Fachpolitiker hätten gedacht, das Thema sei damit durch.
Glatt übersehen, dass eine Wahl die Planungen für die Schulgeldbefreiung unterbrechen könnte
Was sie und offenbar auch der Senat übersehen hatten: Am 26. September 2021 wurde gewählt, und der Doppelhaushalt 2022/2023 konnte gar nicht mehr vom alten Senat zur Beratung und Entscheidung ins alte Abgeordnetenhaus gebracht werden. Der neue Senat stellte einen neuen Haushaltsentwurf vor, der erst am 23. Juni 2022 vom Abgeordnetenhaus verabschiedet wurde.
Außerdem wechselten die Finanz- und die Gesundheitsverwaltung von der SPD zu den Grünen, und die seien von den Plänen abgerückt. Obwohl die selben Parteien den Senat trugen wie vor der Wahl.
König beklagt sich, dass die Gesundheitsverwaltung auch ihr zunächst nur sehr ausweichend geantwortet habe, was es mit der Umsetzung der Schulgeldfreiheit nun auf sich habe. Um dann festzustellen, dass Gotes Haus kleinere Summen eingestellt habe als 2021 geplant.
7,5 Millionen Euro stehen 2022/2023 für die Schulgeldbefreiung bereit
Im Abgeordnetenhaus sei es König aber gelungen durchzusetzen, dass die Beträge hochgesetzt wurden. Laut Senatsgesundheitsverwaltung hatte die Finanzverwaltung für dieses Jahr 750.000 Euro vorgesehen, werden es jetzt 3,5 Millionen. 2023 werden vier statt 2,25 Millionen Euro bereitgestellt. Das dürfte reichen: von Berlins 2941 Ausbildungsplätzen in Gesundheits-Fachberufen seien (Stand November 2021) schulgeldpflichtig.
Senatorin Gote sieht allerdings am Ende die Bundesregierung in der Pflicht. Es sei Sache des Bundes, die Schulgeldfreiheit für Deutschland einheitlich zu regeln.

Der Bund hat inzwischen eine Reihe von Berufen vom Schulgeld befreit
Das Bundesgesundheitsministerium teilte dem KURIER daraufhin mit, dass die Berufsgesetze des Bundes nach und nach „modernisiert“ werden. Es sei jeweils die Bestimmung vorgesehen, wonach eine im Ausbildungsvertrag vorgesehene Verpflichtungen auf Zahlungen durch den Azubi nichtig sind.
Das gelte inzwischen unter anderem für Pflegeberufe, für Anästhesietechnische und Operationstechnische Assistenten oder auch Berufe in der medizinischen Technologie: Zu diesen Berufen, Nachfolger der bisherigen MTA, wird vom kommenden Jahr an ausgebildet. Hebammen, die inzwischen akademisch ausgebildet werden, müssen für den berufspraktischen Ausbildungsteil auch nichts bezahlen.
Angesichts der laufenden Veränderungen zeigt man sich im Ministerium über den Hinweis Gotes auf die Verantwortung des Bundes verwundert. Es sei „nicht so, dass die Länder ohne diese bundesgesetzliche Regelung daran gehindert wären, bereits jetzt dafür zu sorgen, dass in ihrem Bereich kein Schulgeld von den Auszubildenden mehr verlangt wird.“
Noch immer ist unklar, wann die Schulgeldfreiheit beginnt
Und nun? Als Beginn der Zahlungen geisterte der Oktober herum. Dazu erklärte die Gesundheitsverwaltung, das sei schwierig, „da die Schulen zu unterschiedlichen Terminen mit der Ausbildung beginnen (von August bis Oktober). Würde man sich jetzt auf den Oktober festlegen, würden alle benachteiligt werden, die früher beginnen.“ Gegenwärtig sei eine Förderrichtlinie zu erarbeiten, die mit Finanzverwaltung und Rechnungshof abgestimmt werden müsse, wie es die Landeshaushaltsordnung vorgebe.
Sollte man entgegen dieser Ordnung doch zu einer rückwirkenden Förderung kommen wollen, müsse die Senatsfinanzverwaltung „zwingend eine Ausnahme zulassen“. Auch das sei Teil des Abstimmungsprozesses, „dessen Ausgang derzeit noch offen ist.“ Aber man arbeite daran, im neuen Ausbildungsjahr die Schulgeldfreiheit für alle zu erreichen.