Kann ein Lockdown noch verhindert werden? : Neuköllns Gesundheitsstadtrat: „Die Party ist vorbei“
Im Interview erklärt Falko Liecke, warum der Kampf gegen die Pandemie so schwer geworden ist

Neukölln hat ein massives Problem mit der steigenden Zahl von Coronainfizierten. Mittlerweile gibt es fast 200 neue Infektionen pro Woche und 100.000 Einwohner. Dass der Landkreis Berchtesgaden dem Bezirk den Rang als größter Covid-19-Hotspot Deutschlands abgelaufen hat, findet Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU) nicht beruhigend. Im Gespräch erklärt er, warum Neukölln von der Pandemie so schwer betroffen ist und wie das Gesundheitsamt die Zahl der Infizierten verringern will. Einen Lockdown will er - so es irgendwie geht - verhindern.
Berliner KURIER: Wie sieht es denn aus mit den Neuköllner Corona-Zahlen?
Falko Liecke: Nicht gut. Die Inzidenz lag gestern bei über 190. Damit hat Neukölln die höchste Zahl von Infizierten. Gefolgt von Mitte mit einem Wert von 141 .
Immerhin steht Ihr Bezirk jetzt nicht mehr an der Hotspot-Spitze. Die hat das Berchtesgadener Land seit Montag inne.
Das ist für mich kein Grund zum Jubeln. Dadurch schrumpft bei uns die Zahl der Infizierten ja nicht. Interessanterweise haben wir in Berlin ein Ost-West-Gefälle. Im Ostteil der Stadt gibt es weniger Infektionen als im Westteil. Und in der Mitte der Stadt, also auch in Neukölln, explodiert das Infektionsgeschehen.
Warum ist das so?
Ich denke, dass das etwas mit Mentalität und Bevölkerungsstruktur zu tun hat. Wir haben in den Innenstadtbezirken einen hohen Anteil von Migranten und einen hohen Anteil armer Menschen, da spielen oftmals Bildungs- und wirtschaftliche Armut eine Rolle. Ich denke mal, dass viele nicht verstehen, was wir von ihnen wollen und sich deshalb auch nicht an die Regeln halten.
Dann ist das Infektionsgeschehen ein soziales Problem?
Auch. Hier leben in bestimmten Schichten größere Familienverbände und zwar in beengten Wohnverhältnissen. Größere Wohnungen können sie sich nicht leisten, und sie haben auch nicht die Möglichkeit, einfach mal in den Garten zu gehen. Diese Menschen sind jetzt besonders hart vom Infektionsgeschehen betroffen.
Aber das ist nicht der einzige Ursache für die vielen Infizierten, oder?
Wir haben in Neukölln viele junge Leute, internationales Publikum, das unterwegs ist, Party zu machen, Spaß zu haben. Junge Menschen, die sich keine Gedanken machen. Diese Partyszene gibt es nach wie vor. Schauen Sie sich die Weserstraße an oder den Richardkiez. Die Kneipen sind voll, die Menschen sind ausgelassen, singen und tanzen. Das führt natürlich dazu, dass sich das Virus wunderbar ausbreiten kann. Wir hatten auch sehr viele Feiern auch in den Großfamilien. Allein von Mitte September bis Anfang Oktober fanden sieben Großhochzeiten statt, mit jeweils mehreren hundert Gästen. Zahlreiche Menschen haben sich da infiziert.
Konnte der Bezirk diese Feiern nicht verbieten?
Solche Feiern wurden erst am 3. Oktober untersagt. Zudem hatten wir vor vier Wochen noch schönes Wetter. Die Menschen kamen zusammen. Ich denke, dass in dieser Zeit das Virus in die Bevölkerung eingestreut hat. Mitte September explodierten dann die Fallzahlen.
Gibt es in Neukölln eine Gegend, die besonders betroffen ist?
Nicht mehr. Und das macht es so schwierig, weil wir nicht mehr feststellen können, wo das Virus herkommt. Mitte des Jahres hatten wir mit dem Harzer Kiez einen Cluster, mit dem wir gut umgehen konnten. Das gelingt uns jetzt nicht mehr. Wir laufen der Lage hinterher.
Was heißt das?
Wenn jemand positiv getestet wurde, bekommen wir vom Labor die Meldung. Beispiel: Wir bekommen 100 solcher Meldungen am Tag. Davon können wir nur 50 abarbeiten. Die übrigen 50 Fälle werden auf den nächsten Tag übertragen. Da laufen dann noch 50 Leute herum, die nicht wissen, dass sie das Virus in sich tragen. Sie werden angerufen - aber erst am nächsten Tag, an dem neue Fälle gemeldet werden. So wird der Berg immer höher.
Das hört sich so an, als hätte Ihr Gesundheitsamt nicht genügend Mitarbeiter.
So ist es. Aber wir werden Ende nächster Woche 200 Kollegen haben. Normalerweise sind es knapp die Hälfte. Die Neuen kommen unter anderem aus anderen Bereichen des Bezirksamtes, und dann gibt es 27 Soldaten. Ich habe dann noch am Sonntag mit der Gesundheitssenatorin vereinbart, dass wir 20 Kollegen aus dem Landesamt für Gesundheit und Soziales bekommen können und 20 Regierungsinspektoren auf Probe. Sie müssen sich vorstellen, dass ein Kollege am Tag maximal zwei Fälle schafft.
Das hört sich nicht sehr viel an.
Ist es aber. Sie müssen den positiv Getesteten telefonisch erreichen. Im Schnitt hatte jeder 20 bis 40 Kontaktpersonen, die alle erreicht werden müssen. Wenn wir dann wirklich 240 Mitarbeiter im Gesundheitsamt haben, bin ich relativ guter Dinge, dass wir die Lage schnell in den Griff bekommen. Aufgeben kommt nicht infrage. Die Kollegen im Gesundheitsamt kommen auch am Wochenende.

Die Kontaktbeschränkungen des Senats greifen nicht - auch nicht in Neukölln. Welche Maßnahmen können Sie treffen?
Das Wichtigste ist, die Betroffenen für 14 Tage in Quarantäne zu schicken. Derzeit befinden sich im Bezirk 2095 Personen in häuslicher Isolation. Natürlich ist es schwer, das zu kontrollieren. Aber die Menschen haben auch eine Eigenverantwortung. Jeder muss sich fragen, ob er unbedingt in die Kneipe und bis nachts, ich sagte das mal so krass, saufen muss.
Wird kontrolliert, ob Hygieneregelungen in Kneipen oder das Alkoholverkaufsverbot nach 23 Uhr eingehalten werden?
Da haben wir nach wie vor ein Kontrolldefizit. Die Mitarbeiter des Ordnungsamts arbeiten von 6 bis 24 Uhr in drei Schichten. Pro Schicht vier Fahrzeuge mit je zwei Mitarbeitern. Ein Witz für einen 330.000 Einwohner zählenden Bezirk. Deshalb helfen Polizei und Bundespolizei. Und vielleicht könnten uns unsere Nachbarn aus Brandenburg mit Einsatzhundertschaften unterstützen. Das wäre ein Signal an alle Feierwütigen: Die Party is over.
Warum wollen Sie keinen Lockdown?
Er wäre fatal für Familien und Wirtschaft, würde die Akzeptanz aller Maßnahmen in der Bevölkerung vermutlich auf Null bringen. Darum ist es so wichtig, alle anderen Maßnahmen auch wirkungsvoll durchzusetzen.