Gegen Artensterben: Lobby für Insekten in Berlin gegründet
Mit der Kampagne will der Verband Bioland auf das Insektensterben aufmerksam machen und zu mehr Engagement in Politik und Gesellschaft motivieren.

Öl, Autos, Zucker, die Agrarindustrie – alle haben eine Lobby, nur Insekten nicht. Warum eigentlich? Sind sie doch das Fundament, auf dem Biodiversität fußt. Artenvielfalt braucht Insekten. Wir Menschen brauchen Insekten. Zum Bestäuben, in der Nahrungskette für Vögel, Amphibien, Säugetiere. Ohne Insekten geht es nicht, das will eine neu gegründete Insekten-Lobby in die Öffentlichkeit tragen und aufrütteln.
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Während die deutsche Fußballnationalmannschaft gegen Japan verliert, spielt sich in einem Konferenzraum in Berlins Mitte etwas Neues ab. Insekten haben zu einer Pressekonferenz eingeladen, sie wollen endlich auf Augenhöhe mit uns Menschen kommunizieren, sagen sie.
Insekten sind jährlich weltweit an der Erzeugung von Nahrungsmitteln im Wert von mehr als 153 Milliarden Euro beteiligt. Sie bestäuben über drei Viertel unserer Nutzpflanzen. Dabei sind bei Weitem nicht nur Bienen gemeint, deren Schutz mittlerweile schon eher auf den Agendas steht. Schwebfliegen, Käfer, Falter, Hummeln, sie alle arbeiten für uns Menschen, während wir ihre Lebensräume verkleinern und verschmutzen. 75 Prozent der Biomasse an Insekten ist bereits verschwunden. Ein alarmierender Befund aus dem Jahr 2018.
Verband Bioland gründet Insektenlobby
Ihnen läuft wirklich die Zeit davon, machen eine Prachtlibelle, ein Goldlaufkäfer und ein Kleiner Perlmuttfalter symbolisch deutlich und wiegen sorgenvoll die großen Häupter. Dies hier sei die erste und wohl auch wichtigste Pressekonferenz ihres Lebens, so die Libelle.
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Unter den großen Köpfen stecken natürlich Menschen, die den Insekten ihre Stimme geben. Da ist Jan Plagge, Präsident von Bioland, Katharina Schertler und Gerald Wehde, die ebenso für den Verband tätig sind. Im Bioland-Verband sind über 8700 Betriebe aus der Bio-Landwirtschaft, -Imkerei und dem Weinbau in Deutschland und Südtirol versammelt, die nach strengen Bioland-Richtlinien wirtschaften.
Mittendrin zwischen Fühlern und Facettenaugen sitzt Renate Künast, auch sie will mit der Kampagne auf das gravierende Problem aufmerksam machen: Unsere Zukunft braucht jeden Grashüpfer.

Hier spricht also Deutschlands erste „Insektenlobby“. Die neu gegründete Interessenvertretung hat es sich zum Ziel gesetzt, den „11 200 000 000 000 000 000 krabbelnden, kriechenden und fliegenden Arbeiter*innen“ des Landes „eine Stimme“ zu geben. Die Lobbyisten meinen es ernst und haben Forderungen im Gepäck: Weniger Tiere halten, das, was Lebensräume zerstört teuer machen: Stickstoffdünger und Pestizide begrenzen: deren Einsatz darf sich nicht lohnen, so die Lobby. Wildpflanzen müssen her, an jedem Ort, der denkbar ist. Denn Schotterflächen, exotische Pflanzen und Englischer Rasen sind für Insekten nutzlos, so Dr. Reinhard Witt, von Naturgarten e.V. Totalherbizide wie Glyphosat dagegen müssten verboten werden.
Insektensterben: wir sägen am Ast auf dem wir sitzen
„Man muss erst erklären, dass Insekten systemrelevant sind“, sagt Renate Künast. Wenn sie fehlen sei das nicht sogleich sichtbar. „Dennoch sägen wir mit dem fortschreitenden Verlust von Insekten am Ast auf dem wir sitzen.“ Das EU-Ziel, 30 Prozent Ökolandbau bis 2030 zu erreichen, sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.
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„Dennoch müssten wir grundlegend anders produzieren und anders konsumieren“, so Künast. Ein Schritt, den die Bundesregierung umsetze: die Gemeinschaftsverpflegung verändern. Von 16 Millionen Essen pro Tag spricht Künast, wenn hier alles Bio wäre, wäre schon viel geschafft. Auch im Bundestag ringt sie selbst als Kantinenbeauftragte bei der Neuauschreibung der Kantine um mehr Bioqualität. Bei der Berliner BSR ginge es schließlich auch: deren Kantinen sind bereits biozertifiziert.
„Wir produzieren mit Chemie so viel dass wir es hinterher wegwerfen“
„Wir produzieren mit Chemie so viel dass wir es hinterher wegwerfen“, kritisiert Renate Künast, die von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz war.
Neue Arten kennenlernen ist wie die Familie erweitern, ein ganz anderes Lebensgefühl sei das, schwärmt Jan Plagge, als er die Libellen-Maske abgenommen hat. Mit der Kampagne wolle man Bürger und Bürgerinnen aktivieren und motivieren sich für Artenvielfalt zu engagieren. Die Grüne Woche steht ins Haus, gut möglich, dass die Insekten auch da einmal vorbei schauen und für ihr Überleben trommeln.
Nerven gegen das alte Geschäftsmodell
Was man denn selber tun könne, werden die Insekten gefragt: Künast hat eine Antwort. Anderen unermüdlich auf den Nerv gehen mit der Forderung nach gesunden Lebensmitteln, die ökoverträglich hergestellt wurden. „Ohne den alten Geschäftsmodellen auf den Nerv zu gehen geht es nicht. “ Erst wenn man sich selber auf den Nerv ginge, habe man es oft genug gesagt, so Künast.
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Wir haben ein Land voller Zierpflanzen dass ist ein Problem, so Reinhard Witt. Forsythien oder Kirschlorbeer im Vorgarten? Für Insekten Schrott. Jede Zierpflanze aus dem Gartencenter sei ein Verlust. Das Greenwashing, was im Baumarkt mit dem oft zu findenden Label mit den Aufdruck Insektenfreudlich betrieben werde, müsse bekannter werden. Ein weiteres Beispiel gefällig? Die Blühstreifen, welche entlang der Äcker gefördert würden, auch sie seien zum großen Teil nicht hilfreich, weil exotische Samenmischungen zum Einsatz kämen, erklärt Witt. Dahinter stecke die Saatgut und Agrarlobby, die nichts ändern wollten .Nur Sachsen-Anhalt säe heimische Pflanzen aus, die Insekten helfen. 90 Prozent der Insekten stehen auf heimische Wildpflanzen. Manche wie der Zitronenfalter den Faulbaum brauchen ganz spezifische Pflanzen zum Überleben. Verschwinden die Pflanzen, verschwinden die Insekten.