Totgerast: Wie eine Berlinerin weiterlebt, auch wenn die ganze Familie stirbt
Kurz nach Weihnachten 2014 sterben bei einem Autounfall in Namibia Antonias Eltern und ihre Schwester.

Wie oft sind Sie schon an einem Kreuz und Blumen an der Landstraße vorbeigefahren? Haben den Kloß im Hals runtergeschluckt bei Anblick eines letzten Grußes. Die Gewissheit, dass hier Menschen bei Unfällen ihr Leben verloren haben, macht beklommen. Eine „37 Grad“-Reportage begleitet nun zwei Protagonisten, die ihre gesamte Familie bei Autounfällen verloren haben. Weiterleben mit dem Schmerz, das geht – irgendwie –, wie Antonia aus Berlin beweist.
Antonia ist 16 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie im Urlaub in Namibia den Albtraum überlebt. Die Familie, ein Ehepaar aus Berlin und die zwei Töchter Antonia und Alexandra, war mit einem weißen Ford Ranger auf einer verdichteten Salzpiste unterwegs, die zwischen Atlantik und Namib-Wüste an der Küste des südwestafrikanischen Staates verläuft. Gegen 17 Uhr auf dem Rückweg nach Swakopmund kommt ihnen auf der eigenen Fahrbahn ein Toyota-Geländewagen entgegen.
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Das Auto rast frontal in den Wagen der Berliner Familie. Antonias Eltern sind sofort tot, ihre ältere Schwester stirbt noch an der Unfallstelle. Auch drei Menschen im Wagen des Unfallfahrers sterben.
Antonia als einzige Überlebende neben dem Unfallfahrer wird noch in Swakopmund behandelt und dann ins Krankenhaus in die Nachbarstadt Walvis Bay gebracht, bevor sie nach Deutschland ausgeflogen wird.
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Flashbacks noch Jahre nach dem Unfall
Auch acht Jahre später erinnert sich die junge Frau immer wieder an den Unfall, noch immer kommen Flashbacks hoch. Und natürlich fehlen ihr die Opfer. „Ich vermisse meine Familie sehr, sehr regelmäßig“, erzählt Antonia in der „37 Grad“-Reportage „Totgerast – Wie Angehörige weiterleben“, die am Dienstag (30. Mai) um 22.15 Uhr im ZDF läuft.
Nur der Unfallverursacher und Antonia überlebten 2014. Der jungen Frau ist es wichtig, bei den Prozesstagen vor Ort zu sein – obwohl der Unfall und damit der Prozess in Namibia stattfinden, Tausende Kilometer von ihrer Heimatstadt Berlin entfernt.
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Seit 2015 kämpft Antonia um Gerechtigkeit für die Toten. Bei der Verhandlung sieht sie sich Vorwürfen der Verteidigung ausgesetzt, ihr Vater habe den Unfall verursacht. „Ich glaube, mein Vater hat mir an dem Tag das Leben gerettet“, sagt Antonia damals vor Gericht.

In wenigen Sekunden wurde sie zur Waise
Unter Tränen schildert sie den Moment, in dem sie zur Waise wurde und ihre Schwester verlor.
Gefangen im völlig zerstörten Wrack war sie die ganze Zeit bei Bewusstsein: „Mein Bauch tat sehr weh. Ich schaffte es, aus dem Sicherheitsgurt zu rutschen.“ Kniend habe sie dann in dem kopfüber liegenden Auto gekauert. „Ich sah aus dem Fenster und sah ein brennendes Auto.“ Dann habe sie versucht, die vom Unfall stark verzogene Tür aufzudrücken. Erfolglos. „Ich drehte mich um, um meiner Schwester ins Gesicht zu sehen, aber ich sah nur ihre Haare und eine Hand. Ich nahm ihre Hand und sagte ihr, dass wir es schaffen werden. Aber sie fühlte sich leblos an.“
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Besonders bitter: Der Fahrer des anderen Wagens, Jandré D., war rund eine halbe Stunde vor dem Crash von einem Polizisten gestoppt worden. Ein Verkehrsteilnehmer hatte sich telefonisch über D.s rasante Fahrweise beschwert. Nach einer Verwarnung durfte D. aber weiterfahren und raste kurz darauf mit offenbar deutlich überhöhter Geschwindigkeit in den Mietwagen der Berliner Familie.
Traumreise nach Namibia zerstört alles
Kreuze und bemalte Steine erinnern heute an der Unfallstelle an die Toten und mahnen Vorbeifahrende. Die Reise nach Namibia war der Traum von Antonias Mutter, die wenige Tage später ihren 50. Geburtstag feiern wollte. Dass der Mann, der damals mit seinem Wagen zu schnell in der Wüste unterwegs war, nicht über den tödlichen Unfall spricht und trotz der Anklage weiter Auto fährt, ist für Antonia schwer zu ertragen. Noch immer läuft der Prozess, in dem D. wegen sechsfachen Mordes angeklagt ist und auch eine Zivilklage auf Entschädigung.
Der Film von Thomas Riedel, der zur Reihe „37 Grad“ gehört, zeigt sensibel zwei Schicksale hinter den Verkehrsstatistiken und Medienberichten über einzelne Unglücke. Denn was Antonia erlebt hat, ist bei weitem kein Einzelfall: 2782 Menschen starben 2022 allein bei Unfällen auf deutschen Straßen, rund 358.000 Leute wurden verletzt. In Berlin verloren im Jahr 2022 32 Menschen im Straßenverkehr ihr Leben.
Wie man nach einem Trauma weiterlebt
Die knapp 30-minütige Sendung verschafft Antonia und Steffen – auch er ein Hinterbliebener – Gehör und begleitet sie ein Stück weit. Der Schmerz, der zu erahnen ist, berührt, ohne dass man als Publikum den Eindruck hat, unangemessen in intimste Bereiche vorzudringen. Neben Mitgefühl bleibt die Hochachtung davor, wie die zwei ihren Weg gehen.
Dabei geht es auch darum, wie schwierig für sie und ihr Umfeld der Umgang mit dem Trauma ist. Antonia (24), die nach dem Unfall bei Verwandten lebte, erzählt, sie habe damals ihre Mitschüler und Freunde nicht überfordern wollen, ihre Gefühle lieber versteckt und nach außen fröhlich gewirkt. „Dann habe ich aber die Erfahrung gemacht, dass das gerade in den ersten Zeiten für viele auch schwierig war einzuordnen. Eine Freundin meinte zu mir, es wäre einfacher, hätte ich einfach mal geweint.“ Sie wünscht sich, dass die Leute sich trauen, mit ihr zu reden.
Nur Baby überlebte den Unfall
Steffen, ein weiterer Protagonist, hat die Erfahrung gemacht, dass viele nicht mit seiner Situation zurechtkommen. Er hat seine Frau und kleinen Sohn verloren, als ein Auto in der Pfalz mit überhöhter Geschwindigkeit in den Wagen der Familie fuhr. Auch eine Freundin der Familie verunglückte tödlich. Nur seine kleine Tochter Nora, damals gerade einmal einen Monat alt, überlebte den Unfall. „In dem Moment war wichtig: Die Kleine ist im Krankenhaus, die Kleine ist alleine, die Kleine braucht jemanden.“ Ihr soll es trotz des Todes der Mutter gut gehen.
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Er selbst versucht, zu begreifen, alles über den Unfall zu erfahren. Das Wrack bewahrt er auf, falls es vor Gericht als Beweismittel benötigt werden sollte. Nüchtern beschreibt der 37-Jährige heute den Unfallablauf und zeigt am Wrack, wer wo saß. An der Unfallstelle hat er Kreuze aufgestellt, mit Fotos der Toten und einem Kuscheltier – zur Erinnerung und als Mahnung an die Vorbeifahrenden.
Antonia, heute 24 Jahre alt und Studentin, sagte dem Regisseur der Doku, Thomas Riedel: „Für mich ist das Wichtigste, dass die Leute nicht von mir schockiert sind. Und sich nicht trauen, mit mir zu reden. Ich will nicht zu so einem traurigen Phänomen werden in deren Köpfen, was man nicht anfassen darf.“