Corona macht Berlin immer ärmer!
Einmal die Woche stehen bedürftige Menschen vor der Trinitatiskirche in Charlottenburg, um sich bei der Tafel Lebensmittel abzuholen. Sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten – Corona verstärkt das.

Dietmar Gust
Einmal die Woche stehen bedürftige Menschen vor der Trinitatiskirche in Charlottenburg, um sich bei der Tafel Lebensmittel abzuholen. Sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten – Corona verstärkt das.
Henryk K. ist früher gekommen. Er steht mit seinem Einkaufsroller vor der Trinitatiskirche. Es ist 11 Uhr, kalt und ungemütlich. Der Berliner trägt zwei langarmige T-Shirts unter seiner Lederjacke. „Viele sind zeitig da, nicht weil sie Angst haben, nichts mehr zu bekommen, sondern weil wir uns fast alle kennen, und Gelegenheit haben, uns auszutauschen“, sagt er: „Es ist fast wie ein Familientreffen.“ Um 11.30 Uhr startet die Lebensmittelausgabe. Seine von der Tafel vorgegebene Einlasszeit ist heute um 13 Uhr.
Henryk K. ist arbeitslos. Der Berliner lebt seit 46 Jahren in seiner Wohnung in Charlottenburg, die er bis vor ein paar Jahren mit seiner Mutter teilte, bis diese starb. „Ich habe jahrelang als Pfleger gearbeitet, dann bekam ich Rückenprobleme.“ Er machte sich mit einer Videothek selbstständig. Die ging bankrott. „Man ist schneller in dem Teufelskreislauf, als man denkt“, sagt der 55-Jährige.
Ich bin auf die Tafel angewiesen.
Henryk K. (55)
Etwa 50 Menschen haben sich vor der Trinitatiskirche versammelt, im Schnitt nehmen bis zu 200 an einem Dienstag das Angebot wahr. Eine ältere Dame mit blauem Hut hat sich eingereiht, ein Mann in einem Anzug, der ein wenig abgewetzt wirkt. Eine Mutter steht mit einem Kinderwagen in der Reihe, an ihrer Hand quengelt ein Vierjähriger. Auf der Wiese toben Hunde mit ihren Besitzern. Daneben liegt ein Spielplatz, auf dem an diesem Dienstag kaum ein Kind zu sehen ist. Mittwochs und samstags ist hier auf dem Platz mehr los. Bei Wind und Wetter strömen die Menschen auf den Markt am Karl-August-Platz – wegen der regionalen und delikaten Waren. Henryk K. und die, die vor der Kirche stehen, könnten sich die nicht leisten.

„Ich bin auf die Tafel angewiesen“, sagt er. Ein Euro kostet ihn das jeden Dienstag. „Das sind vier Euro für mich im Monat. Eine Woche komme ich mit den Lebensmitteln in der Regel hin. Nicht immer, aber meistens.“ Henryk K. hofft, diesmal vielleicht Wurst zu bekommen. „Fleisch gab es länger nicht mehr, gerade seit Corona. Aber wer weiß, was diesmal dabei ist. Wenn man etwas nicht mag, tauscht man Lebensmittel mit anderen.“ Er lächelt. „Dafür gibt es Tannenzweige und Gestecke für Weihnachten. Die könnte ich mir sonst nicht leisten.“
Vor acht Jahren besuchte er die Ausgabestelle das erste Mal. Anfangs schämte er sich, hierhin zu kommen, sich Lebensmittel aushändigen zu lassen und damit zuzugeben, bedürftig zu sein. „Man fühlt sich wie ein Aussätziger, wie einer, der es nicht geschafft hat. Manchmal gucken einen Spaziergänger abschätzig an.“ Er zückt seinen Verdienstausweis. 432 Euro erhält er monatlich. Der Hartz-IV-Regelsatz. Damit ist er berechtigt, bei der Tafel „einzukaufen“.
Es kann jeden schneller treffen, als ihm lieb ist.
Cornelia (55)
Cornelia, ebenso 55, nickt: „Ich denke dann manchmal, schaut nicht so, es kann jeden aus der Gesellschaft treffen, schneller als es einem ihm lieb ist. Gerade in der Corona-Zeit, die noch mehr Menschen arbeitslos machen wird. Ich wünsche es niemandem, aber ich habe Ärzte und Rechtsanwälte erlebt, die plötzlich nicht mehr arbeiten konnten und an der Armutsgrenze lebten.“ Sie ist ebenso seit Jahren Gast der Tafel. „Ich habe früher in einer Großküche gearbeitet, dann machte meine Seele nicht mehr mit. Ich konnte dem Druck der Arbeitswelt nicht standhalten.“ Sie bezieht eine Erwerbsminderungsrente. „Das Geld reicht hinten und vorne nicht, daher bin ich froh, dass es solche Anlaufstellen gibt. Und auch Corona zehrt an den Nerven.“
Alarmierende Zahlen im Armutsbericht 2020
Jüngst veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen „Armutsbericht 2020“. Der Verband befürchtet eine Verschärfung von Armut und sozialer Ungleichheit durch die Corona-Krise und fordert eine Anhebung der finanziellen Unterstützungsleistungen für arme Menschen.
Nach bereits im August veröffentlichten Daten des Statistischen Bundesamtes stieg die Armut im vergangenen Jahr auf 15,9 Prozent. Es handele sich um die „größte gemessene Armut seit der Wiedervereinigung", heißtes. 2018 lag die Quote noch bei 15,5 Prozent.
Armut wird in reichen Ländern wie Deutschland nicht über direkte Not, wie Hunger oder Obdachlosigkeit definiert, sondern über das Haushaltseinkommen und die daraus folgenden Möglichkeiten an gesellschaftlicher Teilhabe. Die Armutsgefährdungsquote gibt dabei den Anteil der Bevölkerung an, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Bei einem Einpersonenhaushalt lag diese Grenze in Deutschland im vergangenen Jahr bei 1074 Euro im Monat.
Käthe Eckerle leitet die Ausgabestelle in Charlottenburg
In der Kirche stapeln sich derweil mindestens 300 Kisten mit Bananen, Orangen, Brot, Pilzen oder Lauch. Schnittblumen sind an dem Tag ebenso dabei. Die Waren kommen aus Supermärkten wie Lidl, Aldi, Edeka und Rewe, die mit der Tafel kooperieren. Es sind aussortierte Waren, deren Haltbarkeit bald abläuft, oder Obst und Gemüse, das nicht mehr ganz so gut aussieht. Heute sind Ananas und Melonen dabei.
Käthe Eckerle ist seit 15 Jahren bei der Tafel. Sie ist Rentnerin und leitet die Lebensmittelausgabe in Charlottenburg. Bevor sie bei „Laib und Seele“, eine Kooperation der Tafel, Kirchen und dem RBB, mitmachte, engagierte sie sich in der Gemeinde. „Es war immer für mich naheliegend, etwas Sinnvolles zu tun und eine Verpflichtung der Gesellschaft zu erfüllen. Man muss nicht nur mit sich selbst beschäftigt sein, sondern kann auch für andere da sein. Die Menschen bekommen etwas und freuen sich – von wenigen Ausnahmen, die quengelig sind. Ich bin Rentnerin, ich habe Zeit und kann etwas Ordentliches machen.“ Sie ist gelernte Kauffrau, hatte immer mit Menschen zu tun.
Bei der Lebensmittelausgabe sieht sie Menschen kommen und gehen. „Manche nehmen das Angebot seit Jahren in Anspruch.“ Was sie auch beobachtet: „Es ist ein Treffpunkt für einsame Menschen.“

Diejenigen, die die Tafel in Anspruch nehmen, sind oftmals Rentner oder Arbeitslose, sagte sie. Doch auch Flüchtlinge nutzen die Lebensmittelausgabe. Viele der Gäste hätten ihre Schicksale, so Käthe Eckerle – der Verlust des Partners oder des Jobs. Krankheiten, die sie nicht mehr weiterarbeiten lassen. Oder Scheidungen. Obdachlose dagegen kämen selten. „Viele gehen in die Suppenküchen, dort bekommen sie eine warme Mahlzeit.“
50 Ehrenamtliche arbeiten bei der Ausgabestelle an der Trinitatiskirche, insgesamt 1500 engagieren sich in Berlin und versorgen in 45 Ausgabestellen 50.000 Gäste mit Waren – darunter ein Drittel Kinder und Jugendliche.
Mit Corona veränderte sich auch bei der Tafel einiges. Viele Ausgabestellen mussten anfangs schließen, seit März packte der Verein Lebensmitteltüten für die Kunden der „Laib und Seele“-Ausgabestellen. Am 7. September zählten sie die 100.000. Tüte. In den vergangenen Monaten machten viele Stellen wieder auf – unter strengen Hygienekonzepten.
Käthe Eckerle: „Leider müssen seitdem unsere Gäste vor der Tür warten, bis sie dran sind. Vor Corona konnten sie das im Kirchenvorraum tun. Doch dort dürfen sie sich nicht mehr aufhalten.“
Es ist fast 13 Uhr. Henryk K. ist an der Reihe. Er reibt sich die Hände, inzwischen ist er durchgefroren. „Gleich habe ich mein Essen und gehe nach Hause“, sagt er und verschwindet in der Kirche. Nach einer halben Stunde verlässt er das Gotteshaus. Mit in seinem Gepäck ist ein geschmückter Tannenzweig für die Adventswochen.