Erste Besucher in der Neuen Nationalgalerie: Staunen über die große Leere
Der legendäre Bau wurde sechs Jahre lang für 140 Millionen Euro saniert. Nun durften die ersten Besucher hinein. Die 3000 Karten waren nach 90 Minuten vergeben.

Die einen liegen bereits morgens im Tiergarten in der Sonne, die anderen stehen Schlange, um endlich mal wieder Kultur zu erleben: Es ist Sonnabend, fünf Minuten vor 10 Uhr. Gleich ist es soweit: Die Neue Nationalgalerie darf erstmals seit Beginn der Sanierung 2015 wieder von Publikum betreten werden. Die kostenlosen Tickets dafür wurden Ende Mai ins Netz gestellt. Pandemiebedingt durften es nur 3000 Tickets für drei Tage sein. Sie alle waren innerhalb von 90 Minuten weg.
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Weil das Interesse so groß war, öffnet dieser legendäre Mies-van-der-Rohe-Bau nicht wie ursprünglich geplant um 11 Uhr, sondern bereits um 10 Uhr, und Birgit Ludwig steht ganz vorn in der Schlange. „Wir sind gekommen, weil es einfach toll ist, dass nun wieder überall Kultur möglich ist“, sagt die 62-Jährige. „Und dieses Gebäude ist ein echtes Kunstwerk, da ist es doch völlig egal, dass noch gar keine Gemälde an den Wänden hängen.“ Ihr Mann Thomas sagt: „Wir lieben es nun mal, uns Gebäude anzuschauen. Architektur ist auch Kunst.“

Das Gebäude aus dem Jahr 1968 dient als Museum für die Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist etwas ganz Besonderes: Es gilt als Ikone der Klassischen Moderne. Nun wurde es von dem bekannten britischen Architekten David Chipperfield saniert: Bei der Übergabe des Baus im April betrugen die Sanierungskosten 140 Millionen Euro. Ab Ende August soll wieder Kunst gezeigt werden. Doch nun steht bis Montag erst einmal nur das Gebäude im Mittelpunkt.
Ein junger Mann macht einen Freudentanz
Manche spotten beim Vorbeifahren, dass dieser Bau mit seinen Glaswänden und seinem darüber schwebenden dunklen Dach ein wenig wie ein Busbahnhof aussieht. Aber je näher die Besucher dem Gebäude kommen, um so deutlicher ist zu erkennen, wie groß, klar und beeindruckend die Architektur dieses Hauses ist.
Der Witz an dem Gebäude ist, dass überirdisch – im riesigen Glaskasten – quasi nur der Eingangsbereich und die Garderobe sind, die eigentlichen Ausstellungssäle sind unterirdisch.

Zwei junge Männer schauen sich in der weiten Halle um. Der eine trägt einen schwarzen Anzug, einen schwarzen Bart und eine weiße Maske. Er macht mit dem Handy ein paar Fotos von dem leeren großen Raum, der andere vollführt einen kleinen Freudentanz.
Auf die Frage, warum sie gekommen sind, sagt der 25-Jährige mit dem schwarzen Anzug: „Weil es mein Lieblingsgebäude ist. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen.“ Dann erzählt er weiter: Dass ihn seine Eltern schon als Kind unzählige Male „mitgeschleppt“ haben und dass er bestimmt schon 100 Mal hier gewesen sei. „Wegen dieses Baus bin ich Architekt geworden.“ Er lobt die Großzügigkeit der Gestaltung, dass es wirklich viel Freiraum für die Kunst gibt. Dass es keinen vorgeschriebenen Weg durch diesen Bau gibt, dass alles so frei wirkt. Und er lobt vom sichtbaren Teil des Baus die lichte Gestaltung – diese Außenwände aus ganz viel Glas. „Diese komplette Transparenz zur Stadtumgebung ist schon etwas sehr Beeindruckendes.“
Jede Woche einmal Kultur genießen
Angela Rother war schon ein Dutzend mal hier und ist nun extra mit der S-Bahn aus Schönefeld angereist. Die Bankkauffrau gehört zu jenen, die das Berliner Kunst- und Kulturleben mit ihrem dauerhaften Interesse am Leben erhalten. „Ich unternehme eigentlich jede Woche irgendetwas, das mit Kultur zu tun hat“, erzählt die 54-Jährige. „Ich habe auch eine Jahreskarte für die Staatlichen Museen.“

Nun geht sie schnell mal hinüber zu einem Tresen und holt sich eine Kulturzeitschrift, die dort ausliegt. „Ich freue mich einfach, diese Ikone der Baukunst auch mal ohne Kunst an den Wänden zu bestaunen.“ Das habe sie auch schon vor der Eröffnung des Neuen Museums gemacht. „Die große Leere gibt eine ganz andere Möglichkeit, das Gebäude zu genießen.“
Auch in den Pandemiezeiten sei sie kulturell aktiv gewesen, habe übers Internet an Museumsbesuchen in Wien, München und Frankfurt (Main) teilgenommen. Sie ist auch gern bei den Vorträgen der Staatlichen Museen in Berlin dabei. Da werden auch sogenannte „Gesprächsführungen“ durch Museen geboten. „Ein Fachmann führt virtuell durchs Haus. Da war ich diese Woche bei einer Spätgotik-Ausstellung in der Gemäldegalerie dabei.“ Insgesamt waren es etwa 100 Leute aus aller Welt. „Die Leute sagten: Hallo aus Rio, hallo aus Ungarn, hallo aus Mexiko.“ Sie hofft, dass solche Online-Besuche auch nach dem Ende der Pandemie weiter möglich sind. „Dann kann ich weltweit Museen besuchen, zu denen ich sonst nie käme.“ Sie schwärmt von der Spätgotik-Führung im Netz. „Die war so gut, dass ich dort als nächstes ganz persönlich hingehe.“
„Das Glas ist jetzt noch glasklarer“
Auch Tobias Kahlcke ist ein Stammgast der Neuen Nationalgalerie. „Mein Vater hat bei den Museen gearbeitet. Ich kann nicht mal schätzen, wie oft ich hier war.“ Er lobt die Sanierung. „Es sieht Gott sei Dank alles sehr ähnlich zu vorher aus“, sagt der 46-jährige Angestellte im öffentlichen Dienst.
Seine Frau Claudia Niggebrügge hat nur einen Kritikpunkt: „Diese völlig übertrieben verspielten Lampen im Café sind wirklich ausgesucht hässlich und passen so überhaupt nicht zu diesem klaren, schönen Bau.“ Aber ansonsten sei alles beeindruckend schön. Ihrem Mann ist noch etwas an den großen Fenstern zur Außenwelt aufgefallen: „Ich denke: Das Glas ist jetzt noch glasklarer als vorher.“ Echte Fans sehen so etwas.

Nach einer Stunde sind die allerersten Besucher fast fertig mit ihrem Rundgang. „So und jetzt gehen wir Essen im Café am See“, sagt Birgit Ludwig. „Wir müssen es mit der Kultur nicht gleich übertreiben. Wir wollen sie ja auch genießen können.“ Am Nachmittag wollen sie dann natürlich noch das tolle Wetter nutzen, sagt ihr Mann. „Der Pool wartet.“ Seine Frau winkt zum Abschied. Sie strahlt über das ganze Gesicht und ruft lachend: „Und am Donnerstag gehe ich in die Philharmonie.“