Eine Irin in Pankow

Von Belfast in die DDR: Elizabeth Shaws „Der kleine Angsthase“ wird 60

Es gibt wohl kaum ein Kind, welches die Bücher von Elizabeth Shaw nicht kennt. Doch über die Irin, die in der DDR lebte und arbeitete, weiß man wenig. Vor 60 Jahren schrieb Elizabeth Shaw ihr Buch vom mutigen Angsthasen. Ihre Bücher sind zeitlos, ihr weiteres Werk vielfältig.

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Elizabeth Shaws Tochter Anne Schneider (75) vor der Grundschule in Pankow, die den Namen ihrer Mutter trägt. 
Elizabeth Shaws Tochter Anne Schneider (75) vor der Grundschule in Pankow, die den Namen ihrer Mutter trägt. Benjamin Pritzkuleit

Auf einer grünen Bank im Schatten sitzt Anne Schneider inmitten eines großen, bunten Kinderfests. Zum Kindertag, und um den 103. Geburtstag ihrer Namensgeberin zu feiern, haben die Lehrerinnen und Erzieher an der Elizabeth-Shaw-Grundschule in Pankow eingeladen. Der 100. Geburtstag Elizabeth Shaws fiel mitten in die Corona-Zeit, nun wird nachgefeiert.

Es gibt Kuchen und Zuckerwatte, die Eltern haben richtig viel Geld für die Kinder gesammelt. Mit den über 2200 Euro werden sie bald den Schulhof verschönern, wird verkündet. Danach singt der Chor der Schule, Schüler tragen Gedichte über Elizabeth Shaw vor. „Was bleibt, sind ihre Geschichten“, heißt es in einer Zeile.

Von der grünen Bank aus hat man einen guten Blick auf das Treiben. Elizabeth Shaw hätte sicher mit wenigen, klaren Strichen amüsante Szenen eingefangen. Der Junge mit der Bratwurst kleckert, beim Tischtennis fliegen die Fetzen. Und steht da hinten nicht eine schüchterne, kleine Angsthäsin?

Ikonische Kinderbuchfigur: der kleine Angsthase

Vor genau 60 Jahren hat Anne Schneiders Mutter Elizabeth Shaw die ikonische Kinderbuchfigur des kleinen Angsthasen erschaffen. Als Elizabeth Shaw sich erstmals eigenen Kinderbüchern zuwendet, sind ihre eigenen Kinder, Anne und Patrick, schon nicht mehr klein.

Auf dem Schulfest der Elizabeth-Shaw-Grundschule in Pankow.
Auf dem Schulfest der Elizabeth-Shaw-Grundschule in Pankow.Benjamin Pritzkuleit

Anne Schneider erinnert sich: Als Teenager liest sie die Texte, die ihre Mutter auf Englisch schreibt und korrigiert die deutsche Version. In der großen Wohnung in der Treskowstraße in Pankow-Niederschönhausen geht es oft anders zu, als bei den anderen Kindern in Ost-Berlin. „Bei euch ist es immer so exotisch“, habe eine Schulfreundin ihr einmal gesagt, erinnert sich Anne Schneider. 

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Die Eltern arbeiten meist am Abend oder die Nacht durch. Zu Hause spricht Elizabeth Shaw Englisch mit den Kindern, die aber antworten auf Berlinerisch. Es gibt ein Kindermädchen und Leitungswasser statt Tee zu trinken. Die Stullen isst man bei Shaws nicht mit Messer und Gabel. „Vielleicht ist meine Mutter nie so richtig angekommen“, glaubt Anne Schneider heute.

Elizabeth Shaw: Von Belfast in die DDR

Elizabeth Shaw entdeckt schon früh ihre Lust am Zeichnen. Von Belfast, wo sie geboren ist, geht sie zum Kunst-Studium nach London. Dort kommt sie mit kommunistischen Studenten in Kontakt. In ihrer Autobiografie schreibt Shaw, dass der Marxismus für sie eine Lösung zu sein schien, die soziale Ungerechtigkeit, die sie schon in Belfast kennengelernt hatte, zu überwinden.

Elizabeth Shaw zeichnet geradlinig und immer mit Humor. 
Elizabeth Shaw zeichnet geradlinig und immer mit Humor. Kunstarchiv Graetz und Shaw GmbH

Auch ihr späterer Mann, der Maler und Bildhauer René Graetz, ist überzeugt von der kommunistischen Idee. 1946 entscheiden sich die beiden, nach Berlin zu ziehen. In Pankow wird Elizabeth Shaw, wie sie selber schreibt, Zeugin des Aufbruchs und des Untergangs der DDR. „Ein romantisches Abenteuer“ nennt Shaw ihre Zeit in der jungen DDR.

Politische Karikaturen und Reisereportagen für das Magazin

Die Künstler stürzen sich voller Energie in die Arbeit. Elizabeth zeichnet politische Karikaturen für den Ulenspiegel, das Neue Deutschland und den Aufbau-Verlag. Graetz gerät im Streit um Inhalt und Form in der Kunst in Reibereien, da ist es gut, dass die journalistischen Arbeiten und Magazin-Reportagen seiner Frau das Einkommen sichern.

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Mit lapidarem Strich das Wesentliche erfassen, das ist Shaws Markenzeichen. In den 1950er-Jahren wendet sich Elizabeth Shaw Buchillustrationen zu und hat damit sofort großen Erfolg. Erst 1963 schreibt sie mit dem kleinen Angsthasen ihr erstes Kinderbuch. Über 20 weitere Kinderbücher, die heute Klassiker sind, folgen.

Die Angst in der Schnurrhaaren: der kleine Angsthase überwindet sich, als es drauf ankommt. 
Die Angst in der Schnurrhaaren: der kleine Angsthase überwindet sich, als es drauf ankommt. Beltz Kinderbuchverlag

Hier an der Pankower Schule kennt sie natürlich jeder: Den kleinen Angsthasen, Schwein Zilli und seine zwei Brüder, oder die bummelnde Bettina, oder Bella Bellchaud mit ihren Papageien. Schon in der ersten Klassen machen die Schülerinnen und Schüler eine Projektwoche zum Thema.

In der DDR waren die Kinderbücher Elizabeth Shaws sehr erfolgreich, standen in jedem Kinderzimmer-Regal. Heute kaufen die Kinder von damals ihren eigenen Sprösslingen die Werke. Einige der Bücher Elizabeth Shaws wurden im Beltz-Verlag neu aufgelegt. 

Kinder haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gut und Böse

„Ich wollte ganz bestimmte Werte wie Mut, Freundlichkeit und eine Vorstellung vermitteln, dass man nicht nur für sich selbst lebt“, schreibt Shaw in ihrer Autobiografie („Wie ich nach Berlin kam. Eine Irin in der geteilten Stadt“). „Kinder haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gut und Böse und einen starken Gerechtigkeitssinn, bis die Welt der Erwachsenen diese Werte durcheinander bringt.“  Es sind diese Werte, die die Bücher so zeitlos machen, meint Anne Schneider heute.

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„Meine Mutter war eine ruhige Frau mit wunderbarem Humor, eine gute Zuhörerin, eine von unseren Kindern sehr geliebte Grandmother“, so Schneider über ihre Mutter. Sie arbeite daran, dass die Zeichnungen und Texte Elizabeth Shaws in öffentliche Hände kommen und auch in Zukunft weiter gezeigt werden.

Elizabeth Shaw an ihrem Arbeitsplatz in Pankow. 
Elizabeth Shaw an ihrem Arbeitsplatz in Pankow. Kunstarchiv Graetz und Shaw GmbH

Wie zuletzt etwa bei einer Ausstellung in Ahrenshoop im Jahr 2021. Dort an der See verbrachte die Familie ungezählte Urlaube, zeichnete Elizabeth Shaw Menschen und Landschaft. Ihre Kunst, Überflüssiges wegzulassen, und scharf zu beobachten – immer mit einem nachsichtigen Auge für die Menschen – ist auch heute hochmodern. Ihre im besten Wortsinn schlichten Zeichnungen erfassen stets den Kern. Und das ist wohltuend in einer Zeit, in der Bilder und Nachrichten oft schrill kreischen, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Elizabeth Shaws Asche über der Irischen See verstreut

An der See war die Irin ihrer grünen Heimat nah. Nach ihrem Tod wurde Elizabeth Shaws Asche über der Irischen See verstreut, so wollte sie es, erzählt ihre Tochter. Kurz bevor sie 1992 starb, war das Reisen mit dem Mauerfall wieder möglich geworden. 

Was bleibt von der Irin in Pankow, sind ein Gedenkstein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, eine Schule, die das Andenken an ihre Namenspatronin ernst nimmt, und in den Köpfen und Herzen der Kinder ihre Geschichten und Bilder. „Mehr kann man doch eigentlich nicht erreichen“, sagt Anne Schneider. 

Auf dem Kunstfest im Schloßpark Pankow am 10. und 11. Juni wird Anne Schneider mit einem Bücherstand zu Gast sein.