Ein Dorfkind in der Großstadt: Wie ich in Berlin das große Glück fand
KURIER-Autor Florian Thalmann findet Berlin dreckig und laut - und freut sich doch immer wieder darüber, dass er in der großen Stadt wohnen darf.

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle eine Kolumne darüber verfasst, wie mir Berlin zeigt, dass ich älter werde: Wenn ich durch die Stadt laufe, bin ich heute viel empfänglicher für Schmutz und Lärm, als ich es noch vor vierzehn Jahren war, als ich herzog. Ich endete mit der Frage, ob es an mir liegt oder an Berlin – und bekam darauf überwältigende Reaktionen von Ihnen, liebe Leserinnen und liebe Leser. Die meisten stimmen mir zu: Berlin scheint sich in den vergangenen Jahren wirklich verändert zu haben. Es geht also nicht nur mir so – ein beruhigendes Gefühl.
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Wie fühlt man sich, wenn man als Dorf-Kind in die Großstadt zieht?
Der Text, den ich schrieb, hatte aber auch noch andere Folgen. Denn: Der Gedanke daran, wie dankbar ich trotz aller Umstände bin, überhaupt in Berlin wohnen zu dürfen, löste etwas anderes aus: Er erinnerte mich an die Zeit vor 14 Jahren, als ich von meinem 100-Seelen-Dorf in Sachsen in die Großstadt zog. Und förderte ein besonderes Relikt aus jener Zeit zutage: Ein kleines Buch, das ich damals schrieb, mit all den schrägen Anekdoten, die ich dämliches Landei in Berlin erlebte.
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Sie können sich sicher vorstellen, dass jeder fragte: Na, wie ist es denn, wenn man von der letzten sächsischen Provinz in die Metropole zieht? Kommst du klar, Junge? Also schrieb ich alles auf, ließ es als Büchlein drucken und verschenkte es an Freunde und Familie. Von der ersten Fahrt mit der U-Bahn bis zum Leben in der Platte: Die 70 Seiten stecken voller Erinnerungen an meine ersten Schritte in Berlin. Inzwischen ist das Buch ein Relikt, das im Giftschrank meiner ersten Texte verstaubt.

Doch nun, angespornt durch meine eigene Kolumne, nahm ich es wieder zur Hand – und bekam schlagartig das Glücks-Gefühl, das ich schon damals hatte. Zum Beispiel beim Lesen einer Geschichte, in der ich meinen ersten Abend-Ausflug beschrieb. Meine Eltern hatten mich Ende August 2009 mit Sack und Pack zur Platte in Friedrichsfelde gebracht, es sollten noch Möbel geliefert werden. Und kannte noch niemanden, wollte aber trotzdem was erleben. Also beschloss ich, ins Kino zu gehen – und plante den ersten Ausflug mit Akribie.
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Der erste Kino-Besuch in Berlin wird zum Planungs-Chaos
„Viele Fragen tauchen hierbei auf“, schrieb ich. „Wann fährt ein öffentliches Verkehrsmittel? Und: Kommt hier überhaupt was im Kino?“ Fast eine Stunde recherchierte ich im Netz Zugverbindungen, Kino-Pläne und notierte alle Ergebnisse auf Zetteln. Können Sie sich das vorstellen? Ich kam von einem Dorf, in dem es eine Busverbindung gab, die nur bis 18 Uhr fuhr – und das nächste Kino war so weit weg, dass ein Besuch so geplant wurde, wie ich heute einen Städte-Trip ins Ausland plane. In Berlin ging alles einfacher, verunsicherte mich aber offenbar dennoch: Ich fand Öffi-Verbindungen und geschätzte 40 Kinos, packte aber trotzdem – kein Witz – ein geschmiertes Brot für die Fahrt ein.
Als ich dann den U-Bahnhof Tierpark erreichte, war ich platt: Züge fuhren im Fünf-Minuten-Takt. „Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich mir jemals die Frage gestellt habe, ob hier überhaupt was fährt“, schrieb ich. Im Kino am Alexanderplatz dann: Der nächste Kulturschock! An der Kasse sollte ich zuerst wählen, ob ich im Parkett oder in der Loge sitzen möchte. Dann suchte ich den richtigen Saal. Und staunte darüber dass es im Filmpalast Rolltreppen gab. Rolltreppen! Ich kannte bisher nur Kinos mit zwei, drei Sälen. Und nun fühlte ich mich wie auf dem Flughafen.

Ich sah übrigens den Horst-Schlämmer-Film „Isch kandidiere“, über den damals ganz Deutschland sprach. Doch so lustig er war: Es stand noch der Heimweg an!
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Würde ich es schaffen, wieder zurück nach Hause zu finden? Meine Eltern hatten mich gewarnt, ich solle in einer so großen Stadt besser nicht nachts allein vor die Tür gehen – und es war schon 23 Uhr! „Angsterfüllt betrete ich die Bahnhofshalle… und staune“, schrieb ich nun. „Überall ist es hell erleuchtet. Menschen laufen hin und her. Als ich die U-Bahn betrete, habe ich Schwierigkeiten, einen Sitzplatz zu finden.“ Der unheimliche Grusel der Bushaltestellen im Nirgendwo: Hier gibt es ihn nicht.
Berlin ist dreckig und laut, aber ich bin trotzdem dankbar, hier zu leben
Ich beschließe die Geschichte mit dem Gedanken, an den ich mich heute so gern erinnere: Für mich öffnete sich mit Berlin eine völlig neue Welt – der Besuch im Kino ist dafür nur eines von vielen Beispielen. „Ich wollte spontan ins Kino, etwas, das bis zum jetzigen Zeitpunkt für mich nahezu unmöglich war“, schrieb ich.
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Ich ärgerte mich darüber, dass ich den Ausflug so akribisch geplant hatte – denn es zeigte mir, wie tief das dörfliche Denken in mir steckte. „Gut, dass ich nun Gelegenheit habe, etwas anderes zu sehen. Ich bin dafür sehr dankbar.“ Und gerade weil mich Berlin heute manchmal nervt, weil ich die Stadt laut und dreckig finde, tut es gut, sich an damals zu erinnern. Weil die Stadt auch ihre tollen Seiten hat, die im Alltag leider viel zu oft untergehen.
Florian Thalmann schreibt eigentlich jeden Mittwoch über Tiere – aber manchmal auch am Montag über Berliner Befindlichkeiten. Kontakt in die Redaktion: wirvonhier@berlinerverlag.com