Die Abriegelung ganzer Stadtteile ist rechtlich möglich
RKI-Präsident Lothar Wieler hatte die Debatte um die Abriegelung von Risikogebieten aufgeworfen. Die Verfassung lässt eine solche Maßnahme zu - praktisch umzusetzen ist sie kaum.

Die Abriegelung einzelner Stadtteile oder ganzer Ortschaften - noch vor wenigen Wochen schien allein die Vorstellung einer derartigen Maßnahme geradezu utopisch. Doch sollten die Corona-Infektionszahlen in den kommenden Wochen weiter so schnell steigen wie bisher, könnte sie durchaus Realität werden. Am Freitag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) mehr als 7334 Neuinfektionen innerhalb eines Tages, das ist der höchste Wert seit Beginn der Pandemie in Deutschland.
Am Donnerstagabend hatte RKI-Präsident Lothar Wieler die Debatte über eine mögliche Abriegelung von Risikogebieten angestoßen. „Vor neun Monaten habe ich gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann. Inzwischen kann ich mir vorstellen, dass solche Maßnahmen durchgeführt würden“, sagte Wieler dem Fernsehsender Phoenix.
Doch ist es rechtlich überhaupt möglich, einzelne Wohngebiete abzuriegeln? Ja, sagt der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Battis. Tatsächlich sei das ja auch schon passiert, etwa im Fall Tönnies. Im Juni war es bei dem Fleischfabrikanten in Rheda-Wiedenbrück zu Corona-Ausbrüchen gekommen, als Konsequenz wurde eine Siedlung abgeriegelt, in der überwiegend Arbeiter aus der Fleischfabrik wohnten.
Lesen Sie auch: Umfrage in Neukölln: „Ich möchte rausgehen können, wann ich möchte!“
Rechtlich geregelt ist das in Artikel 13, Absatz 7 des Grundgesetzes. Eingriffe und Beschränkungen in die Bewegungsfreiheit dürfen zur „Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen“ und zur „Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ vorgenommen werden, heißt es dort. Die Bekämpfung von Seuchengefahr wird explizit als Anlass für eine entsprechende Maßnahme genannt.
Im Fall Tönnies waren Reisebeschränkungen ursprünglich für mehrere angrenzende Landkreise beschlossen worden. Eine Verordnung, die das Oberverwaltungsgericht Münster aufhob: Sie sei nicht zielgerichtet genug. „Wir sehen ja gerade an den vielen Gerichtsentscheidungen, die verschiedene Maßnahmen – wie das Beherbergungsverbot oder die Sperrstunde – an einigen Orten wieder kippen, dass es immer darum gehen muss, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzuhalten“, sagt Ulrich Battis. Entsprechende Anordnungen, erst recht, wenn sie so weitreichend seien, müssten immer sehr gut begründet werden.
Lesen Sie auch: Lockdown: Die erste Gemeinde in Corona-Quarantäne
Vonseiten der Bundesregierung behält man sich einen entsprechenden Schritt vor. „In bestimmten Gebieten kann die Beschränkung von Ein- oder Ausreisen eine Möglichkeit zur Pandemiebekämpfung sein“, sagte die stellvertretende Regierungssprecherin Martina Fietz am Freitag. Gleichwohl habe auch die Bundesregierung immer betont, dass derartige Maßnahmen „zielgerichtet und spezifisch“ sein müssten.
In Berlin, soviel stellte der Senat bereits am Donnerstag klar, ist eine Abriegelung einzelner Bezirke keine Option. „Diese Situation, dass die Stadt abgeriegelt wurde, hatten wir zweimal in unserer Geschichte“, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. „Ein drittes Mal wird es mit mir nicht geben.“