Alexander Saager (90) in seinem Stammlokal im Bötzowkiez. 
Alexander Saager (90) in seinem Stammlokal im Bötzowkiez.  Foto: Volkmar Otto 

Alexander Saager trotzte dem Krieg, der Hungersnot nach 1945, den radioaktiven Strahlen vom Uran-Abbau für die Wismut und isst seit Jahren vor den Mahlzeiten zwei Chilischoten, um fit zu bleiben. Die Zeitenwenden eines heute 90-Jährigen.

Alexander Saager ist ein Sonntagskind, obendrauf an einem Muttertag, den 11. Mai 1930, in Sachsen geboren. „Das wird dir in deinem Leben Glück bescheren“, ermunterte ihn seine Mama immer, wenn er mal wieder schmollte, weil ihn seine älteren Brüder bei ihren Streifzügen durch die Gemeinde daheim ließen. Oder er in der Nazizeit von Mitschülern gehänselt wurde, weil sein Vorname nicht arisch war. „Ich wusste mich aber zu wehren“, grinst er.

Alexander Saager, heute 90, lehnt sich zurück und sagt: „Recht hat meine Mutter gehabt, auch wenn ich viele Jahre lang sehr schüchtern war.“ Er sei zäh und widerspenstig. Das habe ihm oft das Leben gerettet. 

Es ist ein Nachmittag, an den wir ihn in seinem Stammlokal im Bötzowkiez treffen. Er bestellt sich ein Bier, und kramt mehrere mit Schreibmaschine beschriebene Seiten aus. Er hat Stationen seines aufregenden, von Wenden bestimmten Lebens notiert. Dazu breitet er Urkunden vor uns aus, Fotos aus alten Zeiten.

Alexander Saager ist in Schneeberg im sächsischen Erzgebirge aufgewachsen. Es ist ein schönes Städtchen, seit 500 Jahren geprägt vom Bergbau. In der Mitte der Stadt ragt in seiner Kindheit der Turm der spätgotischen Sankt Wolfgangs-Kirche über die Altstadtdächer. Alexander Saager wohnt mit seiner Familie nebenan.

Alexander Saager als Teenager. Er ist in Schneeberg in Sachsen aufgewachsen. 
Alexander Saager als Teenager. Er ist in Schneeberg in Sachsen aufgewachsen.  Foto: privat/Repro: Volkmar Otto 

Der Vater, ein gelernter Ofensetzer, kehrt traumatisiert und mit Malaria infiziert aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Schlachten toben noch Jahre später in dessen Kopf. „Er hat zu viel getrunken, wurde gewalttätig“, erinnert sich sein Sohn. Als die Nazis 1933 an die Macht kommen, säuft sein Vater noch mehr und brüllt abends auf der Straße „Rot Front“. Saager: „Zum Glück nahmen ihn die Menschen nicht ernst, weil er besoffen war und keiner Partei angehörte.“ Das habe seinem Vater das Leben gerettet.

Im April 1945 erlebt die Familie schwere Bombenangriffe auf die Stadt. Er und seine Familie verstecken sich im Keller, sie werden unter Trümmern begraben. „Wir haben uns Stück für Stück befreit.“ Saager erlebt in jenen Tagen die Schrecken des Krieges, sieht, wie US-Soldaten auf Menschen schießen.

Auch die Kirche mit dem 75 Meter hohen Turm brennt. Drei Tage lang lodern die Flammen. „Die Feuerwehr gab es nicht mehr“, so der heute 90-Jährige. „Danach hatten wir beste Holzkohle.“ Die Kirche wird nach dem Krieg wiederaufgebaut.

Ich schwänzte die Handelsschule und ging auf Hamstertouren, es blieb uns nichts anderes übrig.

Alexander Saager über die Nachkriegszeit 

15 ist Saager, als der Krieg im Mai 1945 endet. Die Alliierten sind vorgerückt. Schneeberg und mehrere Nachbardörfer sind plötzlich vom Rest der Welt abgeschnitten, weil Russen nur bis Annaberg-Buchholz gekommen sind, die Amerikaner bis Zwickau. „Wir gehörten zur sogenannten Schwarzenberger Republik. Wir waren ein unbesetztes Niemandsland und waren wochenlang von der Versorgung abgeschnitten.“

Saager handelte: „Ich schwänzte die Handelsschule und ging auf Hamstertouren, es blieb uns nichts anderes übrig.“

Mit einem Handwagen läuft er mitunter drei Tage lang von Schneeberg über Zwickau ins Altenburger Land, er schläft auf den Wiesen und Feldern und bittet in den Dörfern die Bauern um Obst und Gemüse. Tauschware ist häufig Fliegertuchstoff, den er und seine Kumpels in den verlassenen Nazi-Heereslagern gefunden haben. Manchmal buddeln sie in den Trümmern. Einmal graben sie Rasierklingen aus – dafür bekommen sie ein paar Eier. „Das waren richtige Abenteuer, aber wir waren pfiffig“, so Saager.

Saager nimmt einen Schluck Bier: „Heutzutage werfen wir Lebensmittel tonnenweise weg. Doch in der Nachkriegszeit vor 70 Jahren waren diese ein sehr kostbares und knappes Gut. Der Nachkriegswinter 1946/47 gehörte zu den kältesten des 20. Jahrhunderts. Durch das eisige Wetter wurde der Winter zum Hungerwinter.“

Das seien für ihn Entbehrungen gewesen. Daher könne ihn Corona nicht aus der Bahn werfen. „Es gab ja jetzt alles – außer Toilettenpapier oder manch andere Artikel. Ich habe nur aufgepasst, dass ich mich nicht anstecke, weil ich zur Risikogruppe gehöre. Aber wie gesagt, ich habe andere Krisen durchgemacht.“ Er lächelt.

Die waren mit Zucker, Butter, Mehl sowie zwei Flaschen Wodka und Zigaretten gefüllt.

Alexander Saager über die russischen Präsente für die Bergbau-Arbeiter

Als Saager 16 Jahre alt ist, er die Handelsschule beendet hat, macht er das, was viele in seinem Ort tun – er wird Bergmann bei der Wismut AG (ab 1954 SDAG Wismut – Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut).

Das Unternehmen entwickelt sich seit 1946 zum weltweit viertgrößten Produzenten von Uran. Das an den Standorten in der DDR (Sachsen und Thüringen) geförderte und aufbereitete Uran ist bis 1956 die Rohstoffbasis der sowjetischen Atomindustrie.

Saager beginnt im Schacht „Weißer Hirsch“ in Schneeberg-Neustädtel als Fördermann unter Tage zu arbeiten. Acht Mark verdient er je Schicht, er haut mit Fäusten und Hammer Löcher in das feste Gestein, Bohrmaschinen gibt es nicht. „Das war wie im Mittelalter“, sagt er. Doch die Wismut-Malocher sind privilegiert, zur Belohnung für die harte Arbeit erhalten sie sogenannte Stalin-Pakete. „Die waren mit Zucker, Butter, Mehl sowie zwei Flaschen Wodka und Zigaretten gefüllt“, grinst er.

Dass sie damals gesundheitsschädliches radioaktives Material einatmen, ahnt niemand.

Alexander Saager (vorne, 3. von links) mit seinen Bergbau-Kumpels 1950. Er überlebte als Einziger.  
Alexander Saager (vorne, 3. von links) mit seinen Bergbau-Kumpels 1950. Er überlebte als Einziger.   Foto: privat/Repro: Volkmar Otto 

Saager ist Untertage bis 1954 dabei. Er ist zum Steiger aufgestiegen, übernimmt die Aufsicht und Verantwortung für bis zu 120 Arbeiter. Als er an einem Morgen einen der Arbeitsplätze kontrolliert, sieht er über sich brennende Zündschnüre. Er rennt weg, die Explosion hallt in seinen Ohren. Eine Sekunde später, er wäre tot gewesen. Der Spruch seiner Mutter schießt ihm durch den Kopf: „Du bist ein Sonntagskind, du hast mal Glück im Leben.“

Er wird immer wieder an diesen Satz denken. Auch als er an der Lunge erkrankt, wie viele seiner Bergbau-Kumpels, von denen die meisten nicht überleben. „Es ist vieles vertuscht worden“, sagt er. „Uns erzählte niemand, dass Uran schwer gesundheitsschädlich ist, obwohl viele Lungenkrebs bekamen. Entschädigungen gab es auch kaum, weil damals keine Messungen in den Schächten gemacht worden. Es war alles eine Riesen Sauerei.“

1957 endet der Schneeberger Bergbau. Insgesamt wurden im Laufe der Jahrhunderte in Schneeberg etwa 250 Tonnen Feinsilber, 77.500 Tonnen Wismut- und Kobalterze sowie rund 210 Tonnen Uran gewonnen.

Saager nimmt einen Schluck von seinem Bier, er zeigt auf ein Foto aus jenen Tagen, von 1950. Er, schmächtig und klein, steht zwischen seinen Bergbau-Kumpels. Es ist ein Sonntag. Alle haben sich fein gemacht, tragen Anzüge. Er ist der Einzige, der heute noch lebt. Er zeigt auf einen Mann: „Das war unser Brigadeführer, er war Held der Arbeit.“

Saager wechselt danach mehrfach den Beruf, er ist wendig und clever. Er wird Leiter der Finanzabteilung beim Kreisvorstand der Gewerkschaft Wismut in Oberschlema, danach geht er nach Babelsberg. Er hat sich für einen Lehrgang zum Juristen qualifiziert, ab Januar 1960 arbeitet er in Zwickau als Staatsanwalt – bis zu seiner Rente. „Ich habe diesen Beruf geliebt und war dankbar, dass ich die Chance bekam, ihn auszuüben.“ Kriminalfälle wie Mord und Vergewaltigung sind sein Metier. Oder Grubenbrände.

Saagers Abschlusszeugnis, ab 1960 arbeitet er als Staatsanwalt in Zwickau. 
Saagers Abschlusszeugnis, ab 1960 arbeitet er als Staatsanwalt in Zwickau.  Foto: privat/Repro: Volkmar Otto

Saager lebt damals gerade in Scheidung und lernt seine zweite Frau kennen. Beide lieben Sport. Er vor allem den Fußball. Bis heute erinnert er sich an den 6. Oktober 1956, als sich in Leipzig Wismut Karl-Marx-Stadt und der 1. FC Kaiserslautern gegenüberstanden. Amtierender DDR-Meister gegen westdeutsches Spitzenteam. Saager saß im Stadion, feuerte seine Mannschaft an. „Das ist mir bis heute unvergessen, es war ein großes Fußballspiel, mit Zauberern am Ball wie Fritz Walter, ein Spiel ohne Fouls, ein Fest – auch wenn wir 5:3 verloren haben“, sagt er. Fußball sieht er bis heute gerne. Die, die foulen, schimpft er Strolche. Heute noch.

Alexander Saager lächelt. Er sieht wieder aus wie ein kleiner Junge. „Ich habe viel erlebt, eine Zeitenwende nach der nächsten.“

Als 1989 dann auch noch die Mauer fiel, „konnte ich mein Glück nicht fassen. Ich konnte reisen“. Diese Freiheit, das sei eines seiner Lebenselixiere.

Er lehnt sich zurück: „Wissen Sie, ich hatte zahlreiche Krankheiten. Meine Lungen waren krank während meiner Bergbau-Zeit, ich hatte Herzbeschwerden, eine schwere Bauchspeicheldrüsenentzündung, Rheuma, Ischias, dass ich kaum laufen konnte, und zuletzt Hautkrebs.“

Ich esse keine Wurst, kein fettiges Fleisch. 

Alexander Saager 

Doch er habe immer auf sich geachtet. „Ich hatte nie ein Auto, bin immer mit dem Fahrrad gefahren und zu Fuß gegangen. Vielleicht hat das geholfen. Und ich hatte damals zu DDR-Zeiten Glück, dass mich mein Internist in Zwickau zur Kur in die Tschechoslowakei in das Moor-Heilbad Pistyan schickte.“

Dort sagte man ihm: „Wenn sie gesund werden wollen, müssen sie zweimal im Jahr kommen. Daran halte ich mich, und seitdem bin ich vom Rheuma befreit.“

Außerdem ernähre er sich gesund: „Ich esse keine Wurst, kein fettiges Fleisch und immer vor dem Essen zwei Chilischoten. Das ist die preiswerteste Medizin, die es gibt.“

Er schaut auf die Uhr, seine Freundin möchte ihn gleich noch anrufen. Daheim, auf dem Festnetz. Sie ist 20 Jahre jünger als er. „Als meine zweite Ehefrau starb, war ich lange allein. Jetzt habe ich wieder eine Partnerin.“

Zu zweit sei das Leben einfach schöner. Sagt es, bezahlt sein Bier, und wünscht uns noch einen schönen Tag. Er sei jetzt erst einmal weg.

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