Adieu, Vater des Sommermärchens 1995
Es war ein erst misstrauisch beäugtes, politisch sehr umstrittenes Kunstwerk, das Christo und seine Frau Jeanne-Claude geschaffen hatten: der verhüllte Reichstag. Es wurde zu einem Traum, der die Berliner und die Welt verzauberte. Jetzt ist der Künstler kurz vor seinem 85. Geburtstag in New York verstorben.

Michael S. Cullen geht gemessenen Schritts vor dem Reichstag entlang: Der Berliner Historiker denkt an Christo, den bulgarisch-amerikanischen Künstler, den er einst auf die Idee gebracht hatte, das riesige Gebäude zu verhüllen. Das war 1971 - erst 1995 war es soweit. Es wurde ein künstlerisches Sommermärchen, das fünf Millionen Menschen persönlich sahen. Jetzt ist Christo, der Berlin das unvergessliche Werk geschenkt hatte, im Alter von 84 Jahren in New York verstorben.
Der gebürtige New Yorker Cullen kannte den Verhüllungskünstler Christo nicht persönlich, als er ihm 1971 eine Postkarte mit dem Reichstag nach New York schickte: „Aber ich kannte sein Werk, deshalb die Idee.“ Zwei Monate später trafen sich Christo, seine Frau Jeanne-Claude und Cullen, und es begann ein schier endloser Kampf, die Idee durchzusetzen. Die deutsche Politik fand, dass der Plan dem Gebäude, das damals noch direkt an der Mauer stand, nicht angemessen sei.

Doch Hartnäckigkeit und Geduld zahlten sich aus. Cullen: „Christo war zwar ungeduldig, dachte aber in langen Zeiträumen.“ Der Historiker, Christos Vorposten in Berlin, berichtet, dass der Künstler ihm 1988 verboten habe, mit der neuen Bundestagspräsidentin und Reichstags-Hausherrin Rita Süssmuth (CDU) über das Projekt zu sprechen: „Wenn sie dir Nein sagt, sagt sie mir Nein.“ Das habe er nicht gewollt.
Cullen hielt sich an das Verbot, bis sich 1991 eine neue Chance ergab. Süssmuth hatte gegen den Regierungsumzug nach Berlin gestimmt. Der CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger teilte Cullen mit, sie sei zwar gegen den Regierungssitz Berlin, aber für die Verhüllung. Mit dieser Info im Rücken galt Christos Verbot nicht mehr. Kurz darauf habe er Süssmuth getroffen, und sie sagte „Ja“. Zum Glück hatte Kanzler Helmut Kohl (CDU) gegenüber dem Bundestag nichts zu sagen, der 1994 zustimmte. Kohl war bis zuletzt gegen das Projekt, das Berlin vom 24. Juni bis 7. Juli 1995 verzauberte.

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Andachtsvoll wanderten die Besucher um das silbern glänzende Gebäude, das 90 Fassadenkletterer mit fast 110.000 Quadratmetern eines Polypropylengewebes umhüllt hatten. Menschen picknickten, fotografierten, berührten das Gewebe beinahe schon ehrfürchtig. Stücke davon wurden nach dem Abbau zum begehrten Souvenir. Der frühere ARD-Chefredakteur Ulrich Deppendorf: „Als ich 1995 vor dem verhüllten Reichstag stand, sagte neben mir ein älterer Herr: ‚Nie war er dem Deutschen Volke näher als jetzt.‘ Ich habe diesen Satz nie vergessen.“

Mit Christo verliere die Welt einen der größten Künstler der Gegenwart, meint Cullen, aber nicht seine Werke: Die Erinnerung wirke auch durch Bücher und Zeichnungen nach. Das nächste Projekt wird demnächst verwirklicht: die Verhüllung des Triumphbogens in Paris.
Zeichnungen, Objekte und Fotos der um den ganzen Erdball verstreuten temporären Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude, die 2009 gestorben war, sind gegenwärtig im Palais Populaire Unter den Linden ausgestellt. Die meisten Stücke stammen aus dem Besitz von Ingrid und Thomas Jochheim. Die Kunstsammler aus Recklinghausen mit Zweitwohnsitz Berlin waren seit 1994 mit den New Yorker Künstlern befreundet. „Christo war ein zurückhaltender Mann, der sich mit seiner Frau ergänzte. Nach ihrem Tod bemerkte er immer im Gespräch: Jeanne-Claude würde jetzt das dazu sagen.“

Ingrid Jochheim erinnert sich, dass jedes neue Projekt ein besonderes Ereignis gewesen sei, „wie ein Rausch. Die Menschen, die sie sahen, wurden freundlich zueinander.“ Vor wenigen Tagen sei ein von Christo signierter Katalog angekommen. Nichts habe darauf hingedeutet, dass er bald sterben werde. Thomas Jochheim: „Nur die Unterschrift war nicht mehr so kraftvoll.“ Der Sammler klärt mit einer Anekdote auf, wie der dünne Christo sein enormes Arbeitspensum schaffen konnte: „Morgens aß er keine Knoblauch-Zehe, sondern eine ganze Knolle. “ Das habe bis zum Abend vorgehalten. „Dann hat er in jeder Hinsicht gut gegessen.“
Von Christo könne jeder etwas lernen, meinen die Sammler: „Man muss für seine Ideale einstehen, mit Hartnäckigkeit, Freundlichkeit und Toleranz kommt man ans Ziel.“

Worte des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD) sollen hier für die vielen politischen Nachrufe stehen: „Christo hatte einen magischen Anziehungspunkt geschaffen. Für die Realisierung seiner eindrucksvollen und erlebbaren Kunst musste Christo Hürden nehmen und über Grenzen gehen. Seine Hartnäckigkeit ermöglichte uns, den Blick auf die Welt in neuen Formen und Farben zu sehen und zu denken.“