Stadtgeschichte

Der Preis der Freiheit

West-Berlin lebte von Staatsknete: Zeitweise bestand mehr als die Hälfte des Frontstadthaushalts aus Bundesmitteln

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Links Café Kranzler, rechts Gedächtniskirche: die Skyline von West-Berlin-City in den 70ern
Links Café Kranzler, rechts Gedächtniskirche: die Skyline von West-Berlin-City in den 70ernIMAGO IMAGES/SERIENLICHT

Berlin - Markstücke fielen wie Goldtaler im Märchen einfach vom Himmel: 243,3 Milliarden D-Mark ließ sich die Bundesrepublik Deutschland von 1951 bis 1989 den Erhalt von West-Berlin kosten, so eine Berechnung des Bundesfinanzministeriums. Die Subventionen waren umstritten, dennoch stets reichlich.

Der Bund zahlt - mit dieser Gewissheit lebte es sich trotz Enge bequem. Nicht zu knapp vergütet war damit für rund zwei Millionen Menschen die von Stacheldraht und Todesdrohungen umgrenzte Existenz. Ab 1978 machten die Zuzahlungen mehr als die Hälfte des Landeshaushalts aus. Ralf Ahrens, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), forschte über die meist steuerlichen Subventionen. „Es gab massive Auswüchse wie die Zigarettenschachteln, die nur für das Kleben der Steuerbanderole nach West-Berlin transportiert wurden oder Schweinehälften, die man dort zerlegte und die dann wieder nach Westdeutschland zurückreisten.“

Prominentes Beispiel ist die 1978 gestartete links-alternative Tageszeitung „taz“. Sie nahm Sitz in West-Berlin, weil hier die monatlichen Kosten rund 30.000 D-Mark niedriger waren. Harald Wolf, Bundesschatzmeister der Linken, vorher Mitglied der bis 1989 oppositionellen Alternativen Liste (AL) in West-Berlin, von 2002 bis 2011 Wirtschaftssenator, erklärt, wie immens hoch die Subventionen teilweise waren: „Sie machten in einigen Betrieben pro Arbeitsplatz das Viereinhalbfache der Löhne und Gehälter aus.“ Die Wirtschaftssubventionen waren seiner Meinung nach kontraproduktiv, da sie auf Fernabsatz orientiert gewesen seien. „Das führte dazu, dass sich in West-Berlin eine Industriestruktur von sehr geringer Wertschöpfungstiefe etablierte. Die wesentlichen Vorleistungen wurden außerhalb Berlins erbracht, Berlin verblieb nur Endmontage, im Extremfall nur Endverpackung.“

Ansichtskarte aus dem West-Berlin der 1960er Jahre.
Ansichtskarte aus dem West-Berlin der 1960er Jahre.imago stock&people

Verführerischer Anreiz war auch die „Zitterprämie“ für Arbeitnehmer: acht Prozent Berlin-Zulage aufs Bruttogehalt. Dadurch konnte sich mancher Mittelgroßverdiener doch ein Einfamilienhäuschen oder größeres Auto leisten. Facharbeiter, die von Westdeutschland in die Mauerstadt umzogen, hatten Anrecht auf etliche Zahlungen wie 1200 DM Überbrückungsgeld, Zuschläge für Familienangehörige von 180 bis 720 DM, Erstattung von Umzugs- und Lagerkosten sowie Einrichtungsbeihilfe.

Bundesweite Sondersteuer „Notopfer Berlin“

Schlaraffenland Berlin. Begonnen hatten die Finanzhilfen 1948 als bundesweite Sondersteuer „Notopfer Berlin“. Mit zwei Pfennigen als Sondermarke auf jedem Brief unterstützten Westdeutsche die Versorgung während der Blockade und danach bis 1956. Weiter ging es 1950 mit dem „Gesetz zur Förderung der Wirtschaft von Groß-Berlin (West)“ und anderen.

Nötig war die spezielle wirtschaftliche Förderung, weil mit der Teilung Deutschlands viele Unternehmen samt Arbeitsplätzen nach West-Deutschland abgewandert waren. Zudem war West-Berlin mit dem Mauerbau 1961 vollständig vom wirtschaftlichen Umland abgeschnitten. Eberhard Diepgen (CDU), von 1984 bis 1989 von West-Berlin und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister der wiedervereinigten Stadt, erklärt die Notwendigkeit der Unterstützung mit dem Viermächtestatus nach dem Zweiten Weltkrieg. „Mit ihm waren eine Reihe von Einschränkungen für die wirtschaftliche Entwicklung verbunden. So folgte beispielsweise aus dem entmilitarisierten Status eine Einschränkung der Modernisierung der Industrie, die in der Entwicklung neuer Technologien behindert wurde. Die Sowjetunion und die DDR protestierten beide schon bei der Lieferung von Textilien aus Berlin an die Bundeswehr wegen eines Verstoßes gegen diesen Status. Die Gefahr der Behinderung auf den Zufahrtswegen führte darüber hinaus zu einer starken Zurückhaltung bei Investitionstätigkeiten und Ansiedlungen von Unternehmen.“ Deswegen habe es vorrangig eine verlängerte Werkbank gegeben oder Ansiedlungen wie die Kaffeeindustrie, die nur durch die Steuervorteile wirtschaftlich gestaltet werden konnte. „Die damit verbundenen Probleme mussten durch die so genannte Berlinhilfe mit dem Ausgleich des Haushaltes und der Berlinförderung als Wirtschaftsförderung ausgeglichen werden“, sagt Diepgen.

Doch all der Geldsegen half nicht, in West-Berlin gingen Industrie-Arbeitsplätze wie bei Siemens noch schneller verloren als in West-Deutschland. Ralf Ahrens beurteilt die Subventionen „in Zeiten der allgemeinen Deindustrialisierung als fatal.“ Er verweist auf die Ergebnisse eines 1978 vom Prognos-Instituts für den Wirtschaftssenator erstelltes Gutachten: Zwischen 1962 und 1976 war die Zahl der Industriebeschäftigten von 302.000 auf 192.000 gesunken - mehr als ein Drittel. Im Bundesgebiet waren sie nur um 11,7 Prozent gesunken.

Das gemütliche Miteinander auf Kosten anderer wuchs sich in West-Berlin zu immer neuen Skandalen aus. Ralf Ahrens konstatiert, dass sich im eng begrenzten Raum West-Berlin ein spezielles Klima des Umgangs miteinander entwickelt hatte: „Es gab eine Stärkung der lokalen Netzwerke, Gelder wurden unter der Hand verteilt. Beispiele dafür sind die diversen Bauskandale wie um den Steglitzer Kreisel oder die Antes-Affäre in den 80ern.“

Eine Stadt inmitten des kommunistischen Umfelds

Also wozu all der Aufwand? Die Regierungen der Bundesrepublik zahlten den Preis der Freiheit. Der war nie zu hoch. Eberhard Diepgen beschreibt es so: „In Berlin ging es um die Lebensfähigkeit einer Stadt inmitten des kommunistischen Umfelds. Es ging um die Sicherung von Freiheit im Spannungsfeld von westlicher Demokratie und einem totalitären Gesellschaftssystem.“

Ach, wie schön ist West-Berlin
Filme: Acht Werbefilme über West-Berlin ließ der Senat von 1952 bis 1987 drehen. Sie preisen die „Insel, die eine Weltstadt ist“ als Reiseziel in „Berliner Pflaster“ (1956) und erhöhen in „Reise nach Berlin“ (1952) das Strandbad Wannsee zum „Lido von Berlin“. „Hier möchte man Urlaub machen“ lädt RIAS-Reporter Jürgen Graf 1963 in „Kennen Sie diese Stadt?“ ein. Sprüche: Nach echt Berliner Art brüstete man sich stolz. Mit „Ist durch nichts zu übertreffen“ und „Die größte Industriestadt Deutschlands“ will „Berliner Pluspunkte“ (1978) Facharbeiter zum Umzug bewegen. Selbst im Schlimmsten lässt sich Stolz finden - „Berliner Pflaster“ macht es vor: „Berlin hatte nach dem Krieg mehr Trümmerschutt als alle bayrischen Städte zusammen.“ Wünsche: Die Mauer als Trennung der Stadt hat in jedem der Filme eine negative Rolle. Bundeskanzler Helmut Kohl wünscht sich bei einer offiziellen Rede zum Stadtjubiläum 1987 in „750 Jahre Berlin…Das war‘s“, die „Teilung zu überwinden“. (Alle auf dem fabelhaften Streaming-Portal „filmfriend.de“ der Öffentlichen Bibliotheken Deutschlands.)

Trotz Dauerprotesten wie von der AL-Opposition, dem Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) und dem deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) versiegte der DM-Segen nie. Selbst nicht, als man im West-Deutschland der 80er-Jahre immer mehr dazu neigte, die DDR für ewig einzuschätzen. Eberhard Diepgen ist sich sicher, dass die Existenz von West-Berlin eine einfache Zweiteilung Deutschlands unmöglich machte: „Das hat dazu geführt, dass sich die Deutschen nicht mit der Teilung abfinden konnten und die Forderung nach deutscher Einheit nicht untergegangen ist.“ Harald Wolf meint, dass es auch ohne West-Berlin zur Einheit von West- und Ostdeutschland gekommen wäre. „Die Gründe für den Zusammenbruch des staatssozialistischen Systems liegen tiefer. Es ist in der Sowjetunion und ganz Osteuropa an seinen Systemfehlern und bürokratischer Erstarrung gescheitert. Der Fall der Mauer war Symptom, nicht Ursache des Scheiterns.“

Zu den negativen Folgen der Subventionsmentalität zählt auch die Überschuldung der Gesamt-Stadt im neuen Berlin der 90er. Wissenschaftler Ralf Ahrens sieht aber eine positive Folge im heutigen Berlin: „Es könnte sein, dass die verstärkte Förderung der Wissenschaft damals einen langfristigen positiven Effekt bis heute hat, Berlin ist ein starker Wissenschaftsstandort geworden. Dieser ist mit seinen Ausgründungen von Firmen auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.“