Handwerk, verdrängt durch Wohnungsbau
Das stille Verschwinden von Arbeitsplätzen
Die Mieter eines Spandauer Gewerbegebiets setzten sich vergebens zur Wehr.

Markus Wächter
„Das Handwerk hat in Berlin keine Lobby.“ Ernüchtert steht der Tischlermeister Thorsten Schwemmler (51) in seiner Werkstatt an der Spandauer Rhenaniastraße. Ein Heizlüfter läuft, die Heizung ist bereits abgeklemmt – es ist kurz vor seinem Umzug nach Tegel. Schwemmler hat mit seinen drei Gesellen und zwei Lehrlingen im Berliner Konflikt um Flächen den Kürzeren gezogen. Einem Konflikt zwischen Wohnungsbau und Gewerbe, der in der ganzen Stadt brodelt. In der Regel obsiegt das Wohnen über Handwerk und Kleinindustrie, Arbeitsplätze gehen verloren.
Immer wieder, meist unbemerkt, verschwinden zugunsten des Wohnungsbaus kleine Gewerbegebiete, auf denen Kfz-Schrauber, Tischler, Schlosser oder Bauunternehmen in Betrieben werken, die Berliner liebevoll-spöttisch „Buden“ nennen.
Auffällig wird das Verschwinden nur, wenn es öffentliche Gegenwehr wie an der Rhenaniastraße gibt. Das gut drei Hektar große Gewerbegebiet mit seinen Baracken weicht dem großflächigen Wohnungsbau der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Gewobag in Haselhorst. Die ansässigen Betriebe wehrten sich seit Jahren dagegen.
„17 Betrieben mit 160 Mitarbeitern wurde gekündigt, die meisten haben schon geräumt oder aufgegeben“, berichtet Walter Lang (63). Er hatte mit Gartenmöbeln gehandelt. Seine Ware ist auf der Insel Gartenfeld zwischengelagert, mit einem Vertrag von Monat zu Monat. Lang hofft noch, einen erschwinglichen Standort in Berlin zu finden, nicht weit weg von der Kundschaft. Viel mehr als die 3,86 Euro pro Quadratmeter Miete wie an der Rhenaniastraße könne er sich nicht leisten.
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Während Lang sucht und Schwemmler eine Tischlerei übernehmen musste, deren Miete höher und Fläche kleiner ist als bisher, hat Marco Skala (40) mit seinem Imkerbedarf-Handel Beekeepers das Weite gesucht und in Kremmen gefunden. „Als Berliner wollte ich in Berlin bleiben, aber weder die Gewobag noch die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung oder der Bezirk Spandau konnten mit Flächen notwendiger Größe helfen.“

Markus Wächter
Bei der eigenen Suche wurden Skala teure Mietobjekte angeboten, und das auch nur befristet: „Vermieter von Flächen sagten mir, sie warteten auf lukrativere Anfragen für Wohnungsbau.“ Er wandte sich schließlich an die Wirtschaftsförderung Brandenburg, die ihn im Gegensatz zu den Erfahrungen in Berlin zu seiner eigenen Verblüffung überaus hilfreich unterstützt habe. Beim Umzug nach Kremmen habe sich der Bürgermeister mehrmals gemeldet und gefragt, ob und wie er noch helfen könne.
Alle drei Unternehmer sind sich einig, dass Gewobag, Senat und Bezirk versagt hätten. Zwei zuständige CDU-Stadträte hätten nicht gewusst, dass es das Gewerbegebiet überhaupt gibt. Die Wirtschaftsförderung Spandau habe erklärt, keine Ersatzflächen zu haben.
Sebastian Scheel (Linke), Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, habe die Suche nach Ersatzflächen abgelehnt, mit dem Hinweis, die Gewobag als Grundstückseigentümer sei dafür zuständig.

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Die Gewobag habe zwar bei zwei runden Tischen unter Beteiligung von Industrie- und Handelskammer (IHK), Handwerkskammer, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Bezirk und zweier SPD-Abgeordneter aus Abgeordnetenhaus und Bundestag Versprechungen gemacht, aus denen aber nichts geworden sei.
Lang: „Es war mit den Alibi-Flächenangeboten, als wenn man im Schuhgeschäft günstige Schuhe der Größe 44 verlangt und der Verkäufer einem teure Modelle Größe 36 anbietet.“ Statt der Berliner Mischung aus Wohnen und Gewerbe, die für das Neubaugebiet „Waterkant“ versprochen worden sei, entstehe ein monotones Wohngebiet.

Markus Wächter
Jörg Nolte, Geschäftsführer Wirtschaft und Politik der IHK, kann dazu grundsätzlich berichten: „Nach unseren Recherchen haben allein zwischen 2013 und 2018 über 3700 im Handelsregister registrierte Unternehmen den Standort Berlin verlassen. Davon knapp 1000 in Richtung Brandenburg.“ Zu den Hauptgründen für den Fortzug gehörten laut IHK-Umfrage zu hohe Miet- und Immobilienpreise beziehungsweise fehlende Expansionsflächen. Im Vergleich zu den Stadtstaaten Hamburg (5,9 Prozent) und Bremen (8,4) habe Berlin nur vier Prozent Gewerbeflächen gehabt. Die Handwerkskammer ist gerade dabei, frischere Zahlen zu erheben, was Flächenangebote und Fortzüge angeht. Mehr, als dass die Zahl der Handwerksbetriebe offiziell sinkt, ist nicht bekannt.
40 Flächen gesichert
Die Senatsverwaltung für Wirtschaft weiß nicht, warum wie viele Unternehmen verschwunden sind. Das Haus von Senatorin Ramona Pop (Grüne) verweist darauf, dass im „Stadtentwicklungsplan Wirtschaft 2030“ berlinweit 40 Flächen für Handwerk und Industrie gesichert werden. Dort sollen die Unternehmen vor Verdrängung durch Wohnungsbau, aber auch durch Bürogebäude geschützt sein.
Die von den Ansiedlungen in Adlershof bekannte WISTA Management GmbH soll neue Gewerbeflächen erschließen, Grundstücke im Wege des Erbbaurechts bereitstellen und dafür sorgen, dass kleine Betriebe für erträgliche Miete und auf Dauer Platz erhalten.
Der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus, Christian Gräff, findet es besonders „schwierig“, wenn eine landeseigene Wohnungsbaugesellschaft an der Vertreibung von Gewerbe mitsamt Arbeitsplatzverlusten beteiligt sei – nicht nur in Spandau, sondern beispielsweise auch in Hellersdorf auf dem Areal „Stadtgut“.
Er gesteht den Wirtschaftsförderungsabteilungen der Bezirke zu, dass sie keine Flächen mehr anbieten können. Sonst gebe es aber – auch im Senat – niemanden, der sich um die kleinen Unternehmen kümmere. Ein zentrales Problem in Berlin sei, dass keine Flächen mehr an Unternehmen verkauft würden, sagt Gräff. „Das ist in Brandenburg möglich.“ Kaufe ein Unternehmen sein Betriebsgelände, könne es Banken über das Grundstück Sicherheiten für Kredite bieten.
Anträge abgelehnt
Die CDU hatte kürzlich in Anträgen gefordert, im Fall, dass Gewerbeflächen in Wohngebiete umgewidmet werden, an anderer Stelle gleich viel Platz für Industrie und Handwerk in den Flächennutzungplänen festgelegt werden. Das wurde mit rot-rot-grüner Mehrheit im zuständigen Ausschuss ebenso abgelehnt wie das Verlangen, bei Wohnungsbauvorhaben auf Flächen über 50.000 Quadratmetern einen Teil für kleine und mittlere Unternehmen zu reservieren.
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen erklärte zu den Vorwürfen aus der Rhenaniastraße, dass es „ungewöhnlich viele“ Bemühungen gegeben habe, Ersatzstandorte zu finden. Ansonsten hätten Politik und Verwaltung eine „zügige Schaffung von Wohnraum“ in Haselhorst verlangt.
Die Mieter hätten wissen müssen, dass das Ende des Gewerbegebiets nahe, weil zuletzt nur noch mit jährlicher Kündigungsfrist zu Mieten von 50 Cent bis drei Euro pro Quadratmeter vermietet worden sei und die Umwidmung im Flächennutzungsplan anstand. Sie hätten dabei eine „unternehmerische Eigenverantwortung“ zu tragen gehabt. Beim Gartenmöbel-Händler Lang beispielsweise bedauere man, dass die Flächenangebote seinen „Vorstellungen nicht entsprochen“ hätten.
Senator Scheel habe nichts verhindert, die Änderung des Flächennutzungsplans habe allerdings keine Zustimmung des Abgeordnetenhauses verlangt, weil sie im „vereinfachten Verfahren“ des Baugesetzes erfolgt sei.

Markus Wächter
Die Gewobag teilte auf die Frage mit, wie viele Gewerbebetriebe in Haselhorst rechts und links der Daumstraße für den Wohnungsbau weichen mussten: „Alle.“ An der Rhenaniastraße habe man 26 Mieter gehabt, von denen noch drei dort säßen und bis Ende 2020 gehen müssten.
Tatsächlich resultieren aus den Bemühungen um Ersatzflächen exakt zwei Mietverträge, denen man auch bei den Umbaukosten und mit kostenloser Zwischenlagerung von Mobiliar geholfen habe.
Im Gegensatz zu den Erklärungen der Mieter, dass die Gewobag Kommunikation nur angekündigt, aber nicht praktiziert habe, ist die Wohnungsbaugesellschaft der Auffassung, „sehr sensibel“ auf die jeweilige Lage der Mieter eingegangen zu sein. Gesprächsangebote seien von einigen Mietern aber nicht wahrgenommen worden.