Eine Lehrerin redet Klartext: Das haben wir aus dem Corona-Schuljahr gelernt
Lehrerin Andrea Wulff über ein Jahr, das Schwachstellen offenbart.

Markus Wächter
Eine Woche Sommerferien sind schon rum. Runterfahren, wegfahren, einsortieren, was war. Dieses vergangene Schuljahr war herausfordernd. Für Andrea Wulff begann das Schuljahr mit einer zweiwöchigen Quarantäne und endete mit einer wochenlangen Krankschreibung nach einer Corona-Erkrankung. Die Kunst- und Deutschlehrerin an der Max-Beckmann-Sekundarschule in Reinickendorf hat, wie so viele Pädagogen, ein aufreibendes Jahr hinter sich. Die Bilanz eines Pandemie-Jahres launisch wie ein stürmischer Frühlingtag: in Teilen verheerend, doch immer wieder mit sonnigen Abschnitten.
Als im vergangenen Sommer die Schule wieder startete, war noch kein Gedanke an die Welle, die sich ab September, spätestens aber im Oktober aufbauen sollte, verschwendet. Andrea Wulff war in den Sommerferien in Deutschland wandern und Radfahren gewesen, sie war halbwegs ausgeruht und wollte mit Beginn des Jahres mit ihrer Klasse wieder durchstarten. Ein Mädchen, welches von einer Reise zurückkam, bremste allen Elan jäh aus. Corona war nach einem unbeschwerten Sommer viel schneller wieder da, als allen lieb war.
Ein positiver Test sorgt dafür, dass 26 Mädchen und Jungen und ihre zwei Klassenlehrer erst mal zu Hause bleiben müssen. Es wird nicht die letzte Homeschooling-Phase gewesen sein.
„Während der ersten Quarantäne riefen wir Klassenlehrer die Schüler alle zu Hause an, um zu fragen, wie es ihnen geht“, erinnert sich Andrea Wulff. Wie es ihr ging, wollte kaum einer wissen. Die beiden betroffenen Lehrer fühlten sich ein wenig vergessen, als Elternabende und Schulkonferenzen anberaumt werden. „Kommt doch vorbei“, sagte ein Kollege. Nur wer einmal eine Quarantäne zu Hause abgesessen hat, weiß, wie zynisch das klingt. Doch die zwei Wochen vergehen. Die Mehrfachbelastung für die Lehrer bleibt.
Das Gefühl bleibt, Schülern nicht gerecht zu werden
„Bis Weihnachten gab es immer wieder Schüler, die nicht wie die anderen in die Schulen kamen“, sagt Andrea Wulff. Sie versorgt die Schüler der Risikogruppe jeden Tag nach dem regulären Unterricht mit Aufgaben. Einmal schreibt sie nach einem der langen Tage abends um elf Uhr eine Mail an die Schulleitung: Sechs Stunden Schlaf wären schon gut, und tagsüber eine Pause, um sich mal etwas zu kochen. Ein Schritt, den viele erst gehen, wenn es gar nicht mehr geht. Andrea Wulff bekommt Unterstützung von einer Kollegin, die ebenfalls von zu Hause aus arbeitet. Und doch ist da immer das Gefühl, Schülern, die Hilfe gebraucht hätten, nicht gerecht zu werden.
Der Druck, nicht hinterherzukommen, ist ein ständiger Begleiter.
„Unterricht ist dann gut, wenn man sich darauf freut, die vorbereitete Stunde zu halten“, sagt Andrea Wulff. Doch das funktioniert nur, wenn genügend Zeit da ist, Neues zu denken und auszuprobieren. Dieser Teil der kreativen Lehrerarbeit fiel schon vor der Pandemie oft hinten runter, Corona spitze die Tatsache zu, dass Lehrer wenig Zeit für pädagogische Arbeit sowie die Unterrichtsvorbereitung haben.
Doch es gab auch positive Aspekte des monatelangen Ausnahmelernens. „An der Schule gab es ein gut vorbereitetes Digitalisierungs-Team, welches rechtzeitig im November alle Schulungen durchgeführt hatte. Als der Lockdown kam, waren wir bereit.“
Vor der Kamera zu Hause gibt Andrea Wulff ab dem Winter nun also Fernunterricht. Sie ist sichtbar für die Schüler, die aber haben ihre Videofunktion ausgeschaltet.
Herausforderungen des Videounterrichts gemeistert
„Ich konnte keinem unter die Arme greifen, ihn unterstützen und nicht sehen, was die Schüler wirklich vor dem Rechner machen“, sagt Andrea Wulff. Einmal konnte ein Schüler nicht an der Videokonferenz teilnehmen, weil sein Aquarium auslief. Andererseits konnten Schüler sich plötzlich nicht mehr herausreden, sie hätten eine Aufgabe nicht gesehen, weil der Computer etwas anderes zeigte. Auch habe es Spaß gemacht, sich am Rechner einzuarbeiten, die Herausforderungen und neuen Möglichkeiten, die der Videounterricht bietet, anzunehmen.
Im Fach Kunst kann man hierbei kreativ sein und Aufgaben ließen sich mit Ruhe zu Hause besser bewältigen. Eine Stop-Motion-Animation, in der ein geformter Schädel aus Ton durch das selbst arrangierte Vanitas- Stillleben läuft, etwa. Ein Totenkopf, während die Welt draußen Kopf steht. „Ein bisschen morbide“, gibt Andrea Wulff zu, aber das habe den Schülern Spaß gemacht.
Ob sie Schüler verloren habe? Eindeutig ja. Bei denen, wo es vor Corona schon eine Herausforderung war, ging irgendwann gar nichts mehr. Einmal hat einer in den Chat geschrieben: Ich hab keine Lust mehr auf Homeschooling. Andrea Wulff freut sich, dass wenigstens keine Rechtschreibfehler in dem Statement sind. „Manchmal waren Schüler einfach weg“, sagt Andrea Wulff und es fehlen die Kapazitäten, sie zurückzuholen. Die ewigen Diskussionen darüber, ob dieses und jenes nun wirklich noch gelernt, absolviert, durchgenommen und geübt werden muss, sind wie an vielen Schulen auch hier ermüdend.
Die Schulleitung reagiert und baut Tage ein, an denen Unerledigtes fertig gemacht werden konnte. Einzelne Schüler wurden in die Schule geholt.
In der Pandemie gibt es keinen Feierabend
Dennoch ist es die ganze Zeit über Tatsache, dass es in der Pandemie keinen Feierabend gibt. Das Tool Teams, über welches der Unterricht läuft, ist auf dem Privatrechner installiert. Es pingt und bongt beim Fernsehen, nach zehn, am Wochenende, immer. „Man fühlt sich wie ein allseits bereiter Dienstleister, ständige Verfügbarkeit wird erwartet.“ Andrea Wulff und ihre Kollegen sind erschöpft. Das ist der Zustand, in dem Corona ein zweites Mal näher kommt.
Andrea Wulffs Freund arbeitet als Erzieher, erst ist sein Test positiv, dann ihrer. Andrea Wulff fühlt sich okay, nicht zum Bäume-Ausreißen, aber auch nicht sterbenskrank. In den zwei Wochen verordneter Quarantäne zu Hause zieht Andrea Wulff ihr Pensum weiter durch. Korrigiert Klausuren, gibt Kurse online. Irgendwie geht es schon.
„Im Nachhinein wäre ich froh gewesen, wenn mir ein Arzt gesagt hätte, dass man sich richtig auskurieren soll, sich schonen.“ Drei Wochen später kommt der Zusammenbruch. Es geht gar nichts mehr, der eigene Zustand ist ein ständiges Rätsel. Nach zwei Tagen im Bett geht es mal besser, nach einem Tag Schule alles wieder auf Anfang. „Das war schon beunruhigend“, sagt Andrea Wulff, die immer wieder versucht, wieder in den Schulalltag einzusteigen und daran scheitert. Von zu Hause aus und noch immer krank korrigiert sie 100 Klausuren, Klassenarbeiten, Klausurersatzleistungen und erstellt Endnoten.
Corona lehrt, auf sich selbst achtzugeben
Nach 26 Jahren Lehrerdasein hat das Corona-Jahr Andrea Wulff gelehrt, dass sie nicht zuletzt auf sich selber Acht geben muss. Im nächsten Schuljahr wird sie nicht in die Klasse zurückkehren. Ein lange geplantes Sabbatjahr steht an.
Was besser werden muss? Das Krisenmanagement in den Schulen und die Arbeitsbelastung. „Früher waren es 80 Prozent der Zeit, die sich um Unterricht im weitesten Sinn drehten, 20 gingen für Verwaltungsaufgaben drauf. Heute ist das Verhältnis umgekehrt“, sagt Andrea Wulff.
Das, was den Beruf ausmache, was man gerne tue, geschehe nur noch im Vorbeigehen. „Warum um Himmels willen muss in diesem verrückten Jahr eine Fehlzeitenstatistik ausgefüllt werden?“, fragt Wulff. Es gab ja weder Präsenzpflicht noch regulären Unterricht in den Schulen.
Neben all den Förderplänen, die es auszufüllen gilt, dem Impfstatus hinsichtlich der Masern, der zu prüfen ist, neben Beratungsgesprächen mit Eltern, Schulkonferenzen und all den anderen Verwaltungsaufgaben hat Andrea Wulff die Lust am Lehrersein dennoch nicht verloren. „Eigentlich ist Lehrer ein sehr schöner Beruf“, sagt sie. Wenn unsere Potenziale nur besser genutzt würden.