Zeitenwenden
Das bedrohte Paradies
Dieter Bendorf ist 77 und Rentner. Er hat die Wende erlebt und Corona bisher gemeistert. Nun bangt er um sein Haus.

Dieter Bendorf ist im Krieg geboren und in der DDR aufgewachsen. Der 77-Jährige hat die Wende erlebt und bisher Corona gemeistert. Wenn da nicht die Sorgen um sein Haus in der Kleingartenanlage in Blankenburg wären.
Es ist ruhig zur Mittagszeit in der Kleingartenanlage Blankenburg, Bezirk Pankow. Die Hitze knallt auf die Dächer, Bäume und Sträucher. Dieter Bendorf hat sich mit seiner Tochter Claudia (43) und den zwei Enkeln in den Schatten verzogen. Sie haben Möhrensuppe mit Würstchen gegessen, nun sitzen sie auf der Terrasse unter Weinreben, die er im Oktober oder November ernten möchte, um sie zu keltern. Ein Grill steht an der Hauswand, an der ein Spaten lehnt. Eine Spinne hängt in einem Netz.
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Es ist ein Idyll mitten in der Großstadt. Doch geht es nach der Stadt sollen auf einem angrenzenden Feld etwa 100 Meter weiter sechs- bis zehngeschossige Wohnhäuser entstehen. 6000 Wohnungen an der Zahl für mindestens 12.000 Bewohner. Außerdem soll eine Metrotramtrasse für die M2 durch die Kleingartenanlage führen, um den Ort mit Heinersdorf zu verbinden. Ganz Blankenburg mit seinen 7000 Einwohnern ist seitdem aus dem Häuschen und wehrt sich wie ein gallisches Dorf. Es hat sich eine Bürgerinitiative „Wir sind Blankenburg“ gegründet, die Protestplakate von der letzten Demo hängen inzwischen vor den Toren der Kleingartenanlage. Denn dort fürchten viele der 1400 Kleingartenbesitzer, dass sie weichen müssen. 400 von ihnen leben dauerhaft in der Anlage.
Die Schwiegermutter lebte 70 Jahre hier
Dieter Bendorf ist einer davon und er sieht sein Paradies bedroht. Er wohnt hier seit 50 Jahren. Es ist sein Wohnsitz. Tochter Claudia ist hier am Mohrenammerweg/Safranammerweg aufgewachsen. Bis Mitte Juli lebte nebenan 70 Jahre lang Dieter Bendorfs Schwiegermutter, sie ist mit 95 Jahren gestorben. In ihren letzten Tagen musste sie in ein Heim. Er, seine Frau und die Kinder durften sie wegen der Corona-Krise nur einmal am Tag mit Mundschutz besuchen. Und nur einzeln. Er hätte sich gerne intensiver verabschiedet. „Das hat uns sehr leid getan“, sagt er.
Umbrüche haben Dieter Bendorf geprägt. Er wird 1943 in Sachsen geboren, der Krieg tobt und zwei Jahre später ist Deutschland geteilt. Er wächst in Leisnig an der Freiberger Mulde auf. „Die schönste Stadt Deutschlands“, schwärmt er. Er verlässt die Stadt zum Studieren und landet in Berlin. Maschinenbau-Ingenieur möchte er werden.
„Ich brauchte damals eine Wohnung, doch da ich nicht in Berlin arbeitete, bekam ich keine. Auf einmal wurde diese Hütte frei. Es gab kein Wasser, keine Toilette und keinen Strom.“ Bendorf bekommt den Zuschlag, am 28. Mai 1970 heiratet er, am 1. Juni hebt er das Fundament für sein neues Zuhause aus. Nach der Wende kauft er das Grundstück samt Haus, ebenso die Schwiegereltern nebenan. Sie leben auf 110 Quadratmetern.
Zu DDR-Zeiten waren wir Selbstversorger.
„Zu DDR-Zeiten waren wir Selbstversorger, nach der Wende spielte das keine Rolle mehr, da war es was für Feinschmecker“, erzählt er. Alles hätten sie gehabt, und mitunter auch etwas an den Konsum im „Dorf“, so nennt Bendorf Blankenburg, abgegeben. Kirschen, Pfirsiche, Äpfel und Pflaumen gedeihen nach wie vor in seinem Garten. Ebenso Kräuter und Gemüse. Seine Tochter: „Während des Lockdown. durften wir unsere Eltern nicht besuchen und dadurch konnte viel Obst nicht aufgelesen werden. Fast alle Kirschen und Pflaumen sind verdorben.“
Bis zur Wende arbeitet Dieter Bendorf im VEB TuR, einem Betrieb, der elektromedizinische Geräte baut – wie Ultraschall- und Inhalationsgeräte. „Wir haben den gesamten Ostblock damit versorgt.“ Nach dem Mauerfall, er ist damals Produktionsleiter, läuft es nicht mehr so gut. Der bisherige Absatzmarkt in den einstigen Bruderstaaten bricht nach und nach weg. „Im Westen wollte man unsere Produkte auch nicht.“ Bendorf ist damals froh, dass er ein paar Jahre später in Rente gehen kann. „Ich hatte das Glück, dass ich alt genug war, andere hat es natürlich schlimmer getroffen.“
Dass die Mauer fiel, freut ihn bis heute „wie blöde“. Der Rentner: „Was waren wir alle euphorisch. Die Menschen haben nur noch gestrahlt, bei uns in der Firma knallten die Sektkorken, die Jungen erschienen erst gar nicht zur Arbeit, weil sie drüben waren.“ Er selbst fuhr am Sonntag, 11. November 1989, mit seiner Familie zum Kurfürstendamm. „Wir sind an der Danziger Straße rüber und da stand ein Offizier der Volksarmee mit einer Flasche Cola in der Hand. Das hatte ich noch nie gesehen.“
Vieles ist nach der Wende verloren gegangen. Mir boten sich dagegen neue Möglichkeiten.
Überall, wo er und seine Familie hinkamen, gab es Glühwein umsonst. Als im Dezember die Weihnachtsmärkte losgingen, flanierte er über den Unter den Linden. „Da gab es Stände aus Baden-Württemberg und Bayern, das war wunderbar.“
Gab es nie ein böses Erwachen? „Für mich glücklicherweise nicht. Es war für viele eine schwere Zeit.“ In seinem Heimatort Leisnig habe es mal 42 Gaststätten und drei Tanzsäle gegeben. „Heute sind es nur noch zwei Gaststätten.“ Tochter Claudia nickt: „Vieles ist nach der Wende verloren gegangen. Mir boten sich dagegen neue Möglichkeiten. Ich war in der Schule nie die Leuchte, nach der Wende konnte ich ein Gymnasium besuchen, auf das ich vorher nie zugelassen worden wäre. Danach konnte ich Jura studieren.“

Claudia Bendorf arbeitet heute als Personalerin in einer Firma. In der schwersten Corona-Zeit verlegte sie ihren Job ins Homeoffice. „Dazu kam Homeschooling. Mein Mann und ich haben uns abgewechselt, sonst wäre ich durchgedreht.“
Die Mutter zweier Söhne hat nun das Haus ihrer Großmutter in der Kleingartenanlage geerbt. Es hat vier Zimmer, eine 50er-Jahre-Küche, ein Bad und eine Essecke. „Ich wüsste gerne, wie es weitergeht, denn wir würden uns das Haus gerne umbauen.“ Mit weitergehen, meint sie, ob sie nicht irgendwann von dem Gelände vertrieben werden.
Die Protestler haben nach zwei Jahren einen Teilsieg erzielt
Einen Teilsieg haben die Protestler von Blankenburg erzielt, „weil wir zwei Jahre lang Rabatz gemacht haben“, sagt Dieter Bendorf. Das Bezirksamt Pankow will bis 2030 sein Kündigungsrecht gegenüber Pächtern nicht nutzen. Vorher war im „Blankenburger Süden“ für das größte Neubaugebiet Berlins mit Hochhäusern und einer Schule ein Abriss der Anlage für Wohnungen und Verkehrstrassen vorgesehen.
Nun gibt es eine Neuplanung und zurzeit gibt es vier neue Bebauungsvorschläge der Verwaltung. Claudia Bendorf: „Wegen Corona sind sie nur online einsehbar. Und es sind durchaus schöne Entwürfe, aber wir wollen keinen davon.“ Sie fügt hinzu: „Auch wenn sie die Felder bebauen, wie soll unser kleiner Ort mit dem dann zunehmenden Verkehr klarkommen? 10.000 bis 12.000 neue Bewohner haben auch Fahrzeuge. Das gibt einen Verkehrskollaps.“
Was soll ich denn machen, wenn die uns hier vertreiben?
Der Vater nickt. „Wir haben jetzt schon Staus ohne Ende auf den Straßen.“
Das Thema wühlt ihn auf: „Was soll ich denn machen, wenn die uns hier vertreiben? Für die Menschen, die hier Jahrzehnte wohnen, ist das eine schreckliche Perspektive. Irgendwann wird hier zugebaut, und dann kann man nur hoffen, dass man glimpflich dabei rauskommt.“
Seine Tochter nickt: „Die sitzen das aus, es ist nicht vorbei.“ Dieter Bendorf macht sich ein Bier auf, gleich will er noch im Garten arbeiten. „Trübe Gedanken bringen nichts“, sagt er. Er hoffe noch auf eine Wende.