Corona und die Angst vor dem Tod
Holt das Virus den Tod aus der Tabuzone? Zwei Sterbebegleiterinnen hoffen das. Ein Palliativarzt ist skeptisch. Er wünscht sich ein „Schulfach Sterblichkeit“.

Hiltrud Deniz kennt sie, die Geschichten vom Absperren, vom Aussperren. Sie hat das ja selbst erlebt. Nicht in dem Pflegeheim vom Unionhilfswerk, wo sie sonst sterbende Menschen begleitet. In einer anderen Einrichtung, in der es einen Verdacht auf Covid-19 gab und diese Frau, die im Sterben lag und nun keinen Besuch mehr empfangen durfte – nicht Hiltrud Deniz, nicht einmal die eigene Tochter. Die wandte sich an eine zentrale Beschwerdestelle in Berlin. „Sie haben ihr angeboten, dass sie mit der Polizei reingehen kann“, erzählt Hiltrud Deniz, 72.
Das passierte vor etwa zwei Monaten. Einige Einrichtungen haben sich während der Pandemie abgeschottet, weil dort das Virus ausbrach. Am Montag rückte die Feuerwehr zu einem Seniorenheim in Friedrichshain aus, mehr als 50 Bewohner waren positiv auf Covid-19 getestet worden. Die Sorge vor Ansteckung wächst mit steigenden Infektionszahlen. „Die Situation fordert alle“, sagt Hiltrud Deniz. „Die Heimbewohner, uns Sterbebegleiterinnen, vor allem auch die Pfleger.“
Die Pandemie hat das Thema Tod in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Angst vor dem Sterben erreicht das kollektive Bewusstsein. Tägliche Bulletins muten an wie Listen von Gefallenen in einem Krieg. Es ist ein medialer Krieg gegen das Virus. Die Wahrnehmung hat sich geändert, doch ändert die Pandemie auch den Umgang mit dem Tod? Bringt sie das Thema dauerhaft aus der Tabuzone? Holt sie es aus Kliniken, Pflegeheimen, Hospizen?

Hiltrud Deniz und Petra Langner sitzen in einem Büro des Unionhilfswerks und denken über eine Antwort nach. Stille umgibt das Pflegeheim in Treptow, Plänterwald, Stille auch hier im angrenzenden Verwaltungstrakt. „Jeder beginnt nachzudenken“, sagt Petra Langner, ebenfalls eine ehrenamtliche Sterbebegleiterin. „Ich beobachte gerade bei jungen Menschen eine starke Verunsicherung. Nach dem Motto: ,Dieses Virus muss man doch in den Griff bekommen.‘ Aber es gibt Dinge, die bekommt man nicht in den Griff.“
Manche versuchen es trotzdem, wie jenes Heim, das sich abschottete, weil es positive Fälle, negative Schlagzeilen und einen öffentlichen Spießrutenlauf vermeiden wollte. „Mein Eindruck ist, dass auch viele Besucher nicht mehr so oft kommen, weil sie denken, sie müssten ihre Angehörigen schützen“, sagt Hiltrud Deniz. Sie findet: „Die Angst ist schlimmer als das Virus.“ In diese Diagnose schließt sie Sterbebegleiter ein. Zwei kennt sie, die seit Monaten niemanden mehr betreuen, weil sie fürchten, sie könnten jemanden anstecken.
Viele der Ehrenamtlichen sind Rentner, haben zwar die nötige Zeit und Ruhe, gehören jedoch zur Risikogruppe, müssen sich schützen. „Es ist eine Gratwanderung“, sagt Hiltrud Deniz. „Ich bin auch nicht frei von Sorge, sie ist immer im Hinterkopf.“
Der Tod in der letzten Strophe
Derzeit kümmert sie sich im Treptower Heim um zwei Sterbende, beide halten sich nur in ihren Zimmern auf. „Da kann ich die Maske abnehmen, sie berühren, was ja sehr wichtig ist.“ Viele sind dement in ihrer allerletzten Lebensphase, würden eine Zurückweisung nicht verstehen, wenn sie eine Umarmung brauchen, erkennen nicht den Sinn einer Maske, erkennen ja nicht einmal den Menschen, der sich dahinter verbirgt.
Oft ist in diesem Stadium eine Verständigung über Worte nicht mehr möglich, helfen nur Gestik und Mimik. Oder Singen. Das weckt Erinnerungen, hat Hiltrud Deniz festgestellt. Und dabei ist ihr noch etwas anderes aufgefallen: „Ich habe ein altes Liederbuch bekommen“, sagt sie. „Stets wird in einer der letzten Strophen vom Tod gesungen, selbst bei Wanderliedern ist das oft so.“
Petra Langner hofft, dass eine Rückbesinnung auf das stattfindet, was in den Liedern durchscheint. Dass Covid-19 alte Blickwinkel neu eröffnet. „Heutzutage gilt doch, grob vereinfacht: Du bist jung, du darfst wirtschaften, bis du nicht mehr gebraucht wirst. Dann wirst du outgesourced“, sagt sie. „Die Corona-Krise beginnt jedoch, das Bewusstsein zu verändern. Wenn die Menschen nicht mehr so wirtschaften wie bisher, kommt ja die Frage auf: Was ist wirklich wichtig?“
Matthias Gockel würde sich freuen, wenn es so wäre. Er leitet an der Vivantes-Klinik Friedrichshain das Team der Palliativmedizin und ist Buchautor – „Sterben. Warum wir einen anderen Umgang mit dem Tod brauchen“, lautet ein Titel. Gockel fürchtet, dass die Pandemie zu keinem anderen Umgang führt. „Allein schon die Historie gibt wenig Grund zu Optimismus“, sagt er. „Die Spanische Grippe zum Beispiel ist erst jetzt, nach einer Ewigkeit, wieder zum Thema geworden. Wegen Corona.“
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Zwischen 1918 und 1920 forderte die Pandemie 50.000 Todesopfer in Deutschland. 40.000 kamen durch die sogenannte Hongkong-Grippe Ende der Sechziger ums Leben. „Im kollektiven Bewusstsein blieben Kriege haften, solche Grippewellen jedoch nicht“, sagt Gockel.
Auch in der aktuellen Pandemie erkennt der Palliativmediziner Anzeichen dafür, dass die Lebenden den Tod weiter aus dem Bewusstsein verbannen möchten. „Bezeichnend ist die Diskussion darüber, ob jemand an Covid-19 gestorben ist oder mit Covid-19“, sagt Gockel. „Die Sichtweise dahinter ist doch: ,Das war ja gar nicht die Seuche.‘ Es wird weggeguckt.“ Im Umgang mit größeren Corona-Ausbrüchen in Pflegeheimen wie jetzt in Friedrichshain vermutet der Arzt ein weiteres Indiz. „Sofort wird die Frage gestellt: Wer ist schuld? Da muss doch ein Fehler im System vorliegen.“
Der Tod hat in einer Gesellschaft von Selbstoptimierern keinen Platz. Die Vorstellung, nicht mehr da zu sein, sagt Gockel, sei eine Herausforderung, an der Menschen immer wieder scheitern. „Manche haben so ein Bild vor Augen, dass sie neben ihrem Körper stehen. Aber so gesehen existiert man ja doch noch in einer gewissen Weise.“
Es fehlt die hautnahe Erfahrung, dass jemand von dieser Erde verschwindet. Hiltrud Deniz sagt: „Das hat sich innerhalb von zwei Generationen total geändert.“ Sie selbst wuchs in einem Dorf auf. „Wir sind als Kinder zu jeder Beerdigung mitgegangen.“
Begleitung während der Pandemie
Die Hospizdienste des Unionhilfswerks in Treptow-Köpenick, Reinickendorf und Tempelhof-Schöneberg sind auch während der Pandemie aktiv. Sterbebegleitungen sind zu Hause, in Heimen oder Krankenhäusern möglich.
Freiwillige Sterbebegleiter werden dringend gesucht. Kontakt unter: nord@hospiz-fuer-berlin.de (41 47 10 35) oder süd@hospiz-fuer-berlin.de (530 25 71 44) oder west@hospiz-fuer-berlin.de (62 98 41 90.
Glaube eröffnet einen Zugang, Religion eine Perspektive. „Leute, die nicht religiös sind, können durch starke soziale Bindungen Sicherheit gewinnen“, erklärt Gockel. Doch solche Bindungen herzustellen und zu halten, wird immer schwieriger. „Die Familien sind in den zurückliegenden Jahrzehnten kleiner geworden. Sie sind mobiler geworden. Die Großeltern leben oft in anderen Städten einige Hundert Kilometer entfernt.“
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Außerdem sorgt eine stetig verbesserte Medizin dafür, dass unter 50-Jährige selten den Tod eines nahen Angehörigen miterleben. Rund 900.000 Menschen sterben pro Jahr in Deutschland. Drei Viertel sind älter als 80. „Ausgerechnet in dieser Altersgruppe gibt es durch Corona die meisten Todesfälle“, sagt Gockel. Doch was schlägt er vor?
Was früher Familie und Dorfgemeinschaft im Alltag vermittelt haben, sollte nun die Schule übernehmen, findet der Arzt. „Sterblichkeit als Unterrichtsfach.“ Am Anfang des Lebens soll über dessen Ende gesprochen werden, das ist Gockels Idee. Vorerst geht es jedoch um Nachhilfe im Ernstfall. Den Tod akzeptieren lernen, sagt Petra Langner, sei für die Hinterbliebenen oft eine größere Herausforderung als für die Sterbenden selbst: „Was heißt das: jemanden loslassen?“
Irgendwann stellt sich diese Frage für jeden Menschen. Auch nach dieser Pandemie wird das so sein.