Brüten, Schlüpfen, Füttern

In Schockstarre: So werden junge Störche beringt

In Falkenberg (Brandenburg) lernen Grundschüler alles über die Vögel – und sind auch bei der Ringprozedur dabei.

Teilen
Junge Störche liegen in ihrem Nest auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule.
Junge Störche liegen in ihrem Nest auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule.Patrik Pleul/dpa

Seit über 110 Jahren werden Störche in Deutschland beringt. Ganze Lebensläufe der Zugvögel können so nachvollzogen werden. Im brandenburgischen Falkenberg lernen Kinder das schon in der Grundschule und sind dabei, wenn Jungstörche beringt werden.

Vorsichtig fahren die kleinen Finger über das weiße, weiche Gefieder. Jedes Kind will die jungen Weißstörche wenigstens einmal streicheln. Aufgeregt sprechen alle durcheinander, schließlich ist der Storchennachwuchs zur Beringung das erste Mal vom 19 Meter hohen Schornstein des alten Heizhauses an der Astrid-Lindgren-Grundschule in Falkenberg heruntergeholt worden.

Auf diesen Augenblick haben Pia, Linah und ihre Freunde lange gewartet. Im Sachkundeunterricht wurde das Leben der Zugvögel besprochen und jeden Tag gibt es „Storchenkino“ in der Aula. Dort steht ein Monitor, der mit einer Kamera verbunden ist, der einzigen im Elbe-Elster-Kreis, wie sie stolz erzählen.

„Die jungen Störche sind gerade wie in Schockstarre“

Eierlegen, Brüten, Schlüpfen, Füttern, Flugversuche – mehr Naturkunde geht kaum, sagt Schulleiterin Simone Lösler. „Die Kinder nehmen sehr Anteil, sorgen sich wegen der Trockenheit, ob die Störche auch genug Futter haben.“

Erna und Helmut, wie Schüler und Lehrer das Storchenpaar getauft haben, hatten fünf Eier im Nest, drei wurden unter Beobachtung der Kinder ausgebrütet. Nun liegen die Jungstörche reglos auf einer Bank.

Sabine Lehmann, Weißstorchenbeauftragte aus Herzberg, und Holger Teichert, Regionalbetreuer Südbrandenburg, beringen drei junge Störche auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule.
Sabine Lehmann, Weißstorchenbeauftragte aus Herzberg, und Holger Teichert, Regionalbetreuer Südbrandenburg, beringen drei junge Störche auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule.Patrick Pleul/dpa

Ein günstiger Augenblick für Holger Teichert. Vorsichtig fasst der Nabu-Weißstorchexperte für Südbrandenburg die kleinen Beinchen der Jungvögel und befestigt einen Metall- und einen gelben Kennring daran. „Die jungen Störche sind gerade wie in Schockstarre“, erklärt er und beruhigt zugleich die Kinder. Die Tiere hätten von ihren Eltern beigebracht bekommen, sich in dieser Lebensphase tot zu stellen, um sich so gegen Angreifer zu schützen. Später könnten sie sich mit ihren gewachsenen Flügeln verteidigen, erklärt er.

Störche werden seit 1910 beringt

Ringableser für Störche war Teichert schon als Jugendlicher. Durch die Beringung, die es seit etwa 1910 gibt, ist es möglich, die Vögel in ihren Brutgebieten und auf den Zugwegen zu identifizieren und so ihren Lebenslauf zu erforschen. Vor allem Letzteres ist für den Ehrenamtler spannend.

Fragen dazu gibt es für ihn viele: Warum kommt der Vogel immer wieder in das gleiche Nest zurück? Wo brütet wer? Welche Flugroute haben die Zugvögel genommen? Wo wurde Adebar in der Welt noch überall gesehen und wo kommt ein Storch ums Leben?

Drei junge Störche werden auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule vermessen, gewogen und bekommen zur Wiedererkennung je zwei Ringe.  Die Schüler der Grundschule sind ganz nah dabei.
Drei junge Störche werden auf dem Gelände der Astrid-Lindgren-Grundschule vermessen, gewogen und bekommen zur Wiedererkennung je zwei Ringe. Die Schüler der Grundschule sind ganz nah dabei.Patrick Pleul/dpa

Das alles kann Teichert von den kryptischen Ringnummern nicht ablesen, er kann die Daten aber an die Beringungszentrale Hiddensee in Güstrow melden. Sie ist für die fünf ostdeutschen Bundesländer zuständig. Von dort bekommt er einen ausführlichen Lebenslauf für den beringten Storch. Es gehe um Forschung und das Verfolgen von Zugwegen und Lebensstationen, erklärt der Hobby-Ornithologe. Eine zentrale Frage sei etwa, wie sich Zugwege im Klimawandel veränderten.

Den Ring erkennt man noch aus 200 Meter Entfernung

In Brandenburg werden die Jungstörche in der Prignitz, im Ruppiner- und im Havelland sowie in Teilen der Niederlausitz beringt. Durch das gezielte Ablesen beringter Vögel konnten laut Naturschutzbund (Nabu) im Laufe vieler Jahre Informationen zu Ortstreue, Partnertreue, Lebensdauer, Zugrouten und Todesursachen gesammelt werden.

Die Vogelzugforschung ist auf die Mithilfe von Menschen wie den Ehrenamtler Teichert angewiesen. Oft ist er unterwegs und hält stundenlang Ausschau nach einem beringten Storchenbein. Das erfordert Geduld. „Ich suche so lange, bis ich ihn habe.“ Was helfe, sei der gelbe Kennring an den Storchenbeingelenken. Mit seinem Spektiv kann der Storchenfreund Nummern auch aus 200 Meter Entfernung ablesen.

Der Elektriker Stefan Blüher fährt in einer Hebebühne zum etwa 19 Meter hohen Storchennest auf.
Der Elektriker Stefan Blüher fährt in einer Hebebühne zum etwa 19 Meter hohen Storchennest auf.Patrick Pleul/dpa

„Nicht alle Störche werden beringt, es sind Stichproben“, sagt Christof Herrmann, Leiter der Beringungszentrale in Güstrow. Mit seinem fünfköpfigen Team verarbeitet er große Datenmengen. „Beginnend ab 1964 haben wir 6,2 Millionen Datensätze von 400 wild lebenden Vogelarten. Darunter sind pro Jahr zwischen 1400 und 2500 unserer Weißstörche, die wiedergefunden wurden.“ Das sind mehr als beringt werden. Da kommt die Zentrale auf 1200 bis 1500 Störche pro Jahr.

Im bekannten Storchendorf Rühstädt in der Prignitz sind von den derzeit 32 gezählten Jungstörchen 23 beringt. Jan Dierks, Leiter des Nabu-Besucherzentrums, berichtet von einer „Daumenregel“ in Storchenkreisen, die besagt, dass Weißstörche üblicherweise in einem Umkreis von 60 Kilometern in das Gebiet zurückkehren, in welchem sie ausgebrütet wurden.

Mit diesen Ringen werden die jungen Störche beringt.
Mit diesen Ringen werden die jungen Störche beringt.Patrick Pleul/dpa

Dass diese Regel eine „Daumenregel“ sei, belegten Ringablesungen: Allein in Rühstädt konnten die ehrenamtlichen Storchenfachleute des Nabu-Kreisverbandes Prignitz mehr als 20 Ringe von Altstörchen ablesen, wobei einige aus deutlich entfernteren Gegenden kamen: etwa vom Bodensee, aus der Slowakei und aus Polen.

Durch die Datenauswertung habe man unter anderem auch die Verschiebung der Flugrouten feststellen können, erklärt Christof Herrmann. „Früher waren unsere Störche alles Ostzieher und zogen alle bis Afrika. Heute haben wir zunehmend Störche, die als Westzieher nach Spanien ziehen.“ Nicht selten würden Weißstörche dort auf Müllkippen entdeckt und an die Beringungszentrale gemeldet.

In Kenia: Löwe frisst Storch aus Hiddensee

Ab und an erreichen den Wissenschaftler erstaunliche Geschichten von Weißstörchen aus ganz anderen Teilen der Welt. So wurde ein Storch mit einer Hiddenseer Beringung im Februar in einer Teeplantage in den Nandi Hills in Kenia aufgegriffen und in ein „Wildlife Rehabilitation Centre“ gebracht.

Danach habe sich seine Spur zunächst verloren, wie Herrmann immer noch beeindruckt erzählt. Im März wurde Adebar dann von einer Löwin im Nairobi-Nationalpark erbeutet. Ein Foto zeigte den Hiddenseer Kennring. Weißstörche mit dieser Kennung wurden auch in Israel, Südosteuropa, Litauen und Finnland entdeckt.

Ein junger Storch steht im Nest und breitet wieder seine Flügel aus.
Ein junger Storch steht im Nest und breitet wieder seine Flügel aus.Patrick Pleul/dpa

Die drei Jungstörche in Falkenberg sind unterdessen wieder in ihrem Nest und bereit für weitere Beobachtungen durch die kleinen Experten der Grundschule.

Ein Team des Energieversorgers Envia hat die Tiere mit einem Kran wieder in den Horst auf den Schornstein gebracht. „Wir arbeiten seit einigen Jahren mit dem Naturschutzbund zusammen und helfen gern“, sagt Stefan Bühler, der bereits beim dritten Nest in der Region geholfen hat.

Normalerweise repariert er Freileitungen mit bis zu 20.000 Volt. Jetzt fährt der Techniker unter den Augen der Kinder die eingeschüchterten Jungstörche wieder vorsichtig ins Nest.

„Riechen die Eltern nicht, dass die Menschen ihre Jungen angefasst haben“, fragt ein Schüler. „Vögel können schlecht oder gar nicht riechen“, klärt ihn Holger Teichert auf. Solche Erlebnisse brächten die Kinder nicht nur näher an den Naturschutz heran, es seien auch Werte, die man erhalten müsse und wolle, sagt Schulleiterin Lösler.