Böses Erwachen nach dem Urlaub: Muss Berlin immer laut und dreckig sein?

KURIER-Autor Florian Thalmann ist verliebt in die Hauptstadt - und doch merkt er immer wieder, dass Berlin ihn schafft. Verändert er sich? Oder verändert sich die Stadt?

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Eine Reinigungskraft entfernt am Bahnhof Alexanderplatz eine Bier-Pfütze von einer Treppe - solche Szenen gibt es in der Hauptstadt jeden Tag.
Eine Reinigungskraft entfernt am Bahnhof Alexanderplatz eine Bier-Pfütze von einer Treppe - solche Szenen gibt es in der Hauptstadt jeden Tag.Steinach/imago

Ich bin 33 Jahre alt – und damit, das würden einige behaupten, in der Blüte meines Lebens. Trotzdem geht die Zeit auch an einem noch recht jungen Mann wie mir nicht spurlos vorbei. Natürlich zwickt manchmal schon der Rücken, aber ich halte es wie ein guter Freund meiner Familie, der stets sagt: „Wenn morgens noch kein Zettel an der Zehe hängt, ist alles in Ordnung.“ Und dennoch merke ich, dass ich älter werde – Berlin zeigt es mir immer wieder. Wie, fragen Sie?

Nach dem Urlaub in Helsinki kommt in Berlin das böse Erwachen

Erst neulich war ich im Urlaub in Helsinki. Ein paar Tage verbrachte ich in der finnischen Hauptstadt – um ein Konzert der Band Rammstein zu besuchen, die nun in aller Munde ist, aber auch, um etwas zu wandern und die Stadt und ihre Küste zu erkunden. Schon nach zwei Tagen war ich restlos verliebt in Helsinki. Schöne Parks, überall ist es sauber, die Stadt ist voller freundlicher Leute. Die Menschen in Skandinavien gehören zu den glücklichsten der Welt. Wie machen die das nur?

Mit manchen Dingen geht man in Finnland gänzlich anders um als in Deutschland. Ein Beispiel ist die Raucherei. Ich war selbst mal abhängig von Zigaretten, bin aber seit Dezember 2021 rauchfrei – und stolz, dass ich es geschafft habe. In Finnland gehört es zu den erklärten Staatszielen, rauchfrei zu werden. Und das merkt man: Hier wird es Rauchern richtig schwer gemacht, zur Zigarette zu greifen. Wer etwa den Vergnügungspark „Linnanmäki“ besucht, muss zum Rauchen das Gelände verlassen.

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Alkoholverbot in Helsinki: Nach 21 Uhr gibt's im Supermarkt kein Bier mehr

Zweites Beispiel: Alkohol. Als Touristen haben wir uns direkt am ersten Tag blamiert, weil wir um 21.20 Uhr noch ein Bier im Lidl neben unserem Hotel kaufen wollten. Denkste! An der Kasse wurden uns die Flaschen weggenommen, denn Alkohol wird nur bis 21 Uhr verkauft. Getrunken wird trotzdem, aber es gibt eben fast nur „betreutes Trinken“ in Bars und Restaurants. Beim Konzert von Rammstein war Alkohol nur auf dem Gelände des Stadions erlaubt, in den Innenraum – ob Steh- oder Sitzplatz – durfte nur Wasser mitgenommen werden.

Das Wegbier gehört in Berlin dazu - und es hinterlässt in der Stadt überall Spuren.
Das Wegbier gehört in Berlin dazu - und es hinterlässt in der Stadt überall Spuren.Jürgen Ritter/imago

Die Folgen solcher Regeln: Nach dem Konzert entließen die Veranstalter Tausende halbwegs nüchterne Menschen in die Nacht. Zerbrochene Flaschen oder gar Erbrochenes sucht man selbst am Sonnabend- und Sonntagmorgen auf den Straßen von Helsinki vergebens. Und auch Zigarettenkippen sieht man seltener. In Berlin latscht man durch Bier-Scherben, durch Kotze. Und weil wir „arm, aber sexy“ sind, stört uns nicht, dass ein Bahngleis ohne Kippen angeblich kein richtiges Bahngleis ist.

Schon das Umsteigen an der Warschauer Straße zeigt mir, wie alt ich bin

Nach fünf Tagen kamen wir zurück nach Berlin – und schon das Umsteigen an der Warschauer Straße zeigte mir, wie alt ich offenbar wirklich alt bin. Sofort war laute Musik zu hören, Betrunkene grölten um die Wette. Die vielen Graffitis und der Müll taten ihr übriges. Vor zehn Jahren hätte mich all das nicht gestört, da gehörte ich zu jenen, die selbst einen erheblichen Anteil der Zeit in den Kneipen rund um die Simon-Dach-Straße verbrachten. Doch nun meldet sich die innere Stimme, die fragt: Warum ist das hier so laut, so schmutzig – wieso sieht’s hier aus wie bei Hempels unterm Sofa?

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Bevor mir nun angetragen wird, ich solle doch wegziehen: Ich liebe Berlin, verstehen Sie mich nicht falsch. Für mein inneres Dorfkind ist es ein Segen, hier wohnen zu dürfen – selbst heute, nach fast 14 Jahren an der Spree, kann ich es manchmal nicht fassen. Ich steige am Alex aus der U-Bahn, blicke hoch zur Kugel des Fernsehturms und bin dankbar, dass ich hier leben darf. Die Stadt hat ihre herrlichen Ecken, ich fühle mich hier meistens wohl und verdanke Berlin sehr viele gute Dinge, die mein Leben bereichert haben.

Nur: Muss es so dreckig sein, so unkontrolliert? Dass ein entspanntes Leben und Ordnung auch zusammen gehen, hat mir Helsinki gezeigt. Warum klappt das nicht hier? Liegt es an der Politik, liegt es an den Menschen? Am Image, das Party-People aus aller Welt herzieht, die nach durchzechten Nächten wieder heimfahren und in ihren sauberen Städten die Ruhe hinterm Lattenzaun genießen?

Oder empfinde ich es nur so, weil ich wirklich alt werde? Verändere ich mich, verändert sich die Stadt? Und: Wie blicken Sie auf Berlin? Ich würde es gern wissen. Schreiben Sie mir – an wirvonhier@berlinerverlag.com.