Berlins junge Artisten: Verdirbt Corona ihnen den Sprung in die Karriere?
Eigentlich brechen die Absolventen der Staatlichen Artistenschule alljährlich zu einer Tour durch die Varietés Deutschlands auf. Doch die gibt es wegen der Pandemie nur abgespeckt.

Sie haben jahrelang trainiert – und hoffen nun auf eine Karriere im Rampenlicht: Die jungen Männer und Frauen, die in diesem Jahr als Absolventen die Staatliche Artistenschule in Berlin verlassen. Doch die Corona-Krise bremst auch die Nachwuchs-Talente gewaltig aus: Die Tour, die sie zum Schulabschluss eigentlich durch die Varietés Deutschlands führen sollte, kann nur stark reduziert stattfinden. Im KURIER erzählen die jungen Artisten, was das für sie bedeutet – und mit welchen Wünschen und Hoffnungen sie ihre Laufbahn starten.
Für die jungen Künstler, die lange auf ihren Abschluss als staatlich geprüfte Artisten hinarbeiten mussten, ist es eine wichtige Tradition: Alljährlich gehen die Absolventen der Artistenschule nach ihrem Abschluss auf eine gemeinsame Tour – und zeigen in der „Absolventenshow“ ihre Darbietungen, an denen sie jahrelang feilten. Doch dieses Jahr ist, bedingt durch die Corona-Krise, alles anders. „Eigentlich waren 45 Shows geplant, die uns durch alle namhaften Varietés in Deutschland führen sollten“, sagt Tour-Organisator Maik M. Paulsen. „Aber nun können wir nur 18 Shows spielen, alle anderen wurden abgesagt.“ Paulsen musste extra einen Hygieneplan anfertigen, der die Auftritte der Gruppe möglich machen soll.

Besonders tragisch: Für die jungen Künstler sind eben jene Shows das Sprungbrett – hier können sie sich zum ersten Mal öffentlich zeigen, in den Varietés, die sie später vielleicht buchen. „Wir hoffen, dass das Fachpublikum trotzdem kommt. Nichtsdestotrotz ist es für die Absolventen ein krasser Einschnitt, den man nicht schönreden kann.“ Auch die offizielle Abschlussveranstaltung, die sonst im Berliner Varieté Wintergarten stattfindet, fällt aus. „Aber diesen Abend werden wir mit etwas Glück im Januar nachholen können“, sagt Paulsen. Im KURIER erzählen vier der Artisten, was dieser außergewöhnliche Karrierestart für sie bedeutet.

Jannis Kölling: Auf zwei Händen durch die Welt
Für den 19-jährigen Jannis Kölling kam schon in der Kindheit der Wunsch auf, später als Artist zu arbeiten. „Ich bin mit meiner Oma gern in den Zirkus gegangen, außerdem habe ich immer viel Sport gemacht, schon seit dem dritten Lebensjahr“, sagt er. Doch reines Turnen sei ihm immer zu unkreativ gewesen – deshalb entschied er sich für die Ausbildung auf der Artistenschule. Mit zehn Jahren kam er auf die Schule und spezialisierte sich nach der Grundausbildung auf Handstand-Akrobatik. „Ich habe es immer bewundert, wenn Leute auf einem Arm stehen konnten.“ Dass er und seine Mitschüler nun nur begrenzt auf Tour gehen können, findet Kölling schade. „Es ist ein Rückschlag. Aber wir haben gelernt, damit umzugehen. Wir wollen die Shows, die übrig geblieben sind, nun umso besser hinbekommen.“ Um die Zeit zu überbrücken und etwas Geld zu verdienen, habe er in den vergangenen Monaten in einem Bootsverleih gearbeitet. Der 19-Jährige hofft, dass bald alles wieder normal weitergehen kann. „Denn mein Ziel als Artist ist es, überall herumzukommen. Ob große oder kleine Auftritte: Ich will alles mitnehmen.“

Tim Höfel: Die Krise bremste ihn nicht aus
Im Gegensatz zu seinen Kollegen hatte der 18-jährige Tim Höfel einen Vorteil: Er war während des Corona-Lockdown nicht auf Turnhallen angewiesen, konnte trotz der Schließungen trainieren. Denn Höfels Requisit ist das BMX-Rad. Damit dreht er auf der Bühne seine Runden, zeigt waghalsige Kunststücke. Eine Disziplin, mit deren Seltenheit seine Chancen auf dem Markt steigen dürften. „Das kann natürlich gerade jetzt ein Vorteil sein“, sagt er. Höfel ging schon als Kind zum Leistungsturnen in Potsdam – und traf in der vierten Klasse die Entscheidung, auf die Artistenschule zu gehen. Nach der Grundausbildung probierte er sich erstmals auf dem BMX aus – und war begeistert. „Ich hatte vorher mit dem Rad nichts am Hut, musste bei null beginnen. Die Kunststücke lernte ich vor allem aus Videos, die ich auf YouTube sah.“ Tausende Trainingsstunden und zahlreiche Stürze später wollte er mit seiner Darbietung durch Deutschland rollen – doch dann kam Corona. „Ich habe mich schon gefragt, ob ich unter diesen Umständen die Chance habe, in der Branche einen Fuß in die Tür zu bekommen“, sagt er. Zumindest habe er die Corona-Zeit genutzt, mit seinem Rad auf Supermarkt-Parkplätzen geübt, nebenher in einem Café gearbeitet, um Geld zu verdienen. „Die Absolventenshow wird uns weniger bringen als den Jahrgängen vor uns. Aber ich hoffe, dass die wichtigen Leute auch zu den wenigen Shows anreisen.“

Luzie Marschke: Hoffnung auf die ganz große Bühne
Die 20-jährige Luzie Marschke kam auf einem eher ungewöhnlichen Weg auf die Artistenschule. „Meine Schwester ist Kamerafrau, interviewte für ihr Studium eine Schülerin der Schule“, erzählt sie. So entstand die Idee, selbst auf die Schule zu gehen – für Marschke, die schon im Alter von vier Jahren mit dem Geräteturnen begann, eine spannende Perspektive. „Ich wollte mich immer schon bewegen, das machte mir Spaß – aber ich hatte irgendwann keine Freude mehr daran, nur für Wettkämpfe zu arbeiten.“ Stattdessen war sie begeistert von Artisten auf der Bühne. „Sie bewegten sich so elegant, mir gefiel deren Präsenz sehr.“ Marschke spezialisierte sich auf die Arbeit im Luftring, zeigt ihre Kunststücke heute in der Höhe. Fünf Stunden hat sie während der Schulzeit pro Tag geübt – und diesbezüglich während der Corona-Zeit etwas gelernt. „Ich war zum ersten Mal auf mich allein gestellt, hatte keinen Trainer. Und fand dadurch zum ersten Mal heraus, dass ich in der Lage bin, zu Hause allein zu trainieren“, sagt sie. Trotz der abgespeckten Tour freue sie sich auf das, was nun kommt. „Ich bin glücklich, dass wir überhaupt starten können.“ Und Marschke hat keine schlechte Perspektive: Bei einem Besuch von Talent-Fahndern des weltberühmten Cirque du Soleil landete sie bereits in der Kartei der Zirkus-Truppe. Vielleicht schafft sie es also bald auf die ganz großen Bühnen.

Lenya Lev: Vom Palast ans Trapez
Die 18-jährige Lenya Lev ist seit der fünften Klasse Schülerin auf der Berliner Artistenschule – und brachte bereits Erfahrungen mit. „Ich habe vorher im Kinder- und Jugendensemble des Friedrichstadt-Palasts getanzt“, erzählt sie. Damals habe sie noch nicht genau gewusst, wohin die Karriere später führen soll. „Der Wunsch, als Artistin auf der Bühne zu stehen, wuchs mit mir selbst. Je länger man an der Schule ist, desto mehr verfestigt sich der Plan.“ Sie zeigt heute ihre Kunststücke am Trapez – ein klassisches Requisit in der Artistik, das allerdings viel Übung erfordert. „Mir lag die Disziplin. Als Kind bin ich auch immer überall hochgeklettert, deshalb bot es sich an, in der Luft zu arbeiten.“ Zu Beginn habe sie Höhenangst gehabt. „Aber man lernt irgendwann, sich auf seinen Körper zu verlassen und darauf zu vertrauen, was man kann. Man fällt natürlich ab und zu runter, aber es ist auch wichtig, dass man das lernt. Das Fallen gehört zur Ausbildung.“ Lange habe sie nun damit gerechnet, dass wegen der Corona-Krise keine Abschluss-Tour stattfinden kann. „Denn die Show macht den Einstieg ins Berufsleben einfacher. Und man arbeitet jahrelang dafür. Ich hoffe, dass die wichtigen Veranstalter trotzdem auftauchen – und wir genauso gefragt sind wie die Absolventen der vergangenen Jahre.“