Berliner Betriebe bieten immer weniger Lehrstellen an
Schon jetzt klafft gegenüber dem Vorjahr eine Lücke von 2500 Ausbildungsplätzen, und 9300 Schulabgänger haben immer noch keine Lehrstelle.

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Sie wollten Restaurantfachfrau werden, Koch oder Hotelkaufmann, doch nun steht eine Entlassung am Anfang ihrer gerade erst begonnenen beruflichen Laufbahn. Das Hotel Intercontinental an der Budapester Straße hat seinen 16 Auszubildenden des ersten Lehrjahres fristlos gekündigt. Eine Nachfrage mit der Bitte um eine Erklärung blieb unbeantwortet. Wie aus Betriebsratskreisen zu erfahren war, hieß es dort, man könne eine gute Ausbildung nicht gewährleisten.
Der arbeitsrechtlich zweifelsfrei anfechtbare Fall zeigt die dramatische Situation auf dem hiesigen Ausbildungsmarkt. Nicht nur, dass etwa jedes fünfte Unternehmen in der Stadt Kurzarbeit angemeldet hat, und sich die Lehrausbildung dort wenigstens schwierig gestaltet, wenn die Azubis nicht sogar nur als bessere Pförtner oder als Ersatz für die Kurzarbeit eingesetzt werden. Trotz nach wie vor bestehendem Fachkräftemangel streichen immer mehr Betriebe ihr Ausbildungsprogramm unter dem Einfluss der Corona-Krise zusammen. Denn während bei der hiesigen Arbeitsagentur bereits im März 1500 Lehrstellen weniger gemeldet waren als im Jahr zuvor, so wuchs das Minus im Juni auf 2500 Lehrstellen. Und auch das ist nur eine Momentaufnahme. „Für nicht wenige Unternehmen geht es genau jetzt um die Existenz“, sagt Jan Pörksen, Geschäftsführer Ausbildung und Beruf bei der hiesigen Industrie- und Handelskammer (IHK). „Die denken an vieles, nur nicht an Ausbildung.“

Im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Tourismus- und Veranstaltungsbranche sind die Auswirkungen der Pandemie so stark wie nirgendwo sonst. Hotels haben Auslastungen von zehn bis 20 Prozent. Viele Häuser haben noch gar nicht geöffnet, andere schon wieder geschlossen. „Es ist nicht so, dass die Betriebe generell nicht ausbilden wollen, die meisten können nicht“, sagt Sebastian Riesner, Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Berlin und Brandenburg.
Wie viele Betriebe im Hotel- und Gaststättenbereich die Krise nicht überleben werden, darüber will der Gewerkschafter nicht spekulieren. Der Branchenverband erwartet, dass bis zum Jahresende bis zu 10.000 Arbeitsplätze in der Berliner Gastronomie verloren gehen, und bei der IHK weiß man, dass sich an deren Beratungs-Hotlines für Betriebe längst ein Themenwechsel vollzogen hat. Ging es in den vergangenen Wochen vor allem um Auskünfte zu Finanzhilfen und Überbrückungskrediten, so steht nun immer häufiger das Insolvenzrecht im Mittelpunkt des Interesses. NGG-Gewerkschafter Sebastian Riesner befürchtet, dass infolge dessen ein ganzes Ausbildungsjahr abgeschrieben werden muss.
Tatsächlich gibt es schon jetzt allein in der Gastronomie über 70 Ausbildungsplätze weniger als vor einem Jahr. In der Hotellerie sind nahezu 150 Ausbildungsstellen verschwunden. Im Tourismus-Bereich schrumpfte die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen auf 59 zusammen. Für sie gibt es derzeit 235 Bewerber.
Riesner ist auch Mitglied einer Taskforce, deren Gründung vorige Woche in der Sonderkommission „Ausbildungsplatzsituation und Fachkräftesicherung“ beim Regierenden Bürgermeister beschlossen wurde. Deren Ziel ist es, für besonders betroffene Branchen vorübergehend neue Ausbildungsmöglichkeiten zu entwickeln. Laut Riesner denke man etwa über Auffanggesellschaften nach, in denen Azubis ihre Lehre beginnen oder fortführen können.
IHK-Mann Pörksen schätzt die Situation in Hotellerie und Gastronomie nicht weniger dramatisch ein, aber er hat auch Hoffnung. In der Industrie, im Gesundheitswesen, bei Banken und Versicherungen und in der Digitalwirtschaft sei das Ausbildungsangebot keineswegs geringer, sagt er. Nur: „Wer Koch werden will, wird sich schwer für einen Bankschalter begeistern lassen“, so Pörksen. Allerdings gebe es für jeden Beruf auch Alternativen in anderen Branche, die ebenfalls zu den Interessen und Stärken des potentiellen Azubis passen.
Doch dafür ist eine Berufsberatung nötig, die unter Corona quasi nicht stattfand. Es gab weder Jobbörsen noch Ausbildungsmessen. In den Schulen ging es irgendwie um Unterricht, nicht aber um Berufsorientierung. Selbst in den Arbeitsagenturen, denen bei der Beratung von Jugendlichen eine wichtige Rolle zukommt, tat sich in den vergangenen Monaten in dieser Hinsicht kaum etwas. „Kurzarbeit hatte erste Priorität“, sagt eine Sprecherin. Dafür wurde quasi die gesamte Behörde umgebaut. Mitarbeiter aus der Jobvermittlung und Berufsberatung wurden abgezogen, um täglich bis zu 2000 Kurzarbeitergeld-Anträge bearbeiten zu können. Inzwischen sei „ein Großteil“ der Berufsberaterinnen und Berufsberater zurück an ihrem Platz. Seit Mittwoch, so heißt es, seien in allen Berliner Jugendberufsagenturen wieder persönliche Gespräche nach Terminvereinbarung möglich.
Bedarf sollte es geben. Aktuell haben insgesamt 9300 Schulabsolventen noch keine Ausbildungsstelle, während auf der anderen Seite derzeit nur noch 6800 Stellen unbesetzt sind. Pörksen von der IHK bleibt dennoch zuversichtlich und erinnert daran, dass auch im vergangenen Herbst in Berlin noch 1300 Ausbildungsstellen unbesetzt waren. „Wenn wir in diesem Jahr alle Plätze besetzen können, ist die Lücke am Ende doch nicht so groß.“
Immerhin, auch das gibt es: Die Marzahner Koch Automobile AG, bekanntermaßen in einer Branche unterwegs, deren Absatz in der ersten Jahreshälfte um 34 Prozent eingebrochen ist, hat ihr Ausbildungsangebot in diesem Jahr sogar aufgestockt. 36 Azubi-Stellen sind zu besetzen, 17 mehr als im vergangenen Jahr. 22 Ausbildungsstellen seien noch offen, sagt Jasmin Stuff, Ausbildungsverantwortliche des Unternehmens. „Zum Beispiel in den kaufmännischen Berufen.“