Arzneimittel für MS-Kranke

Berliner Arzt soll 16 Millionen Euro an Kassen zahlen

Regressforderung trotz Zahlungszusagen – Krankenkassen sprechen von einem Einzelfall.

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Immunglobuline können MS-Kranken Erleichterung verschaffen, sind für diesen Zweck aber nicht zugelassen.
Immunglobuline können MS-Kranken Erleichterung verschaffen, sind für diesen Zweck aber nicht zugelassen.
imago images/Shotshop

Berlin – Ein Berliner Arzt, der Schwerkranken helfen will, soll 16 Millionen Euro an verschiedene Krankenkassen zurückzahlen. Regressforderungen in dieser Höhe haben zum Streit der Kassen mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin geführt, die für den Arzt haften muss, weil der das Geld nicht aufbringen kann. 

Es geht um einen Arzt, der anonym bleiben will, und der seit vielen Jahren Patienten mit Multipler Sklerose (MS) behandelt – eine unheilbare, meist schubförmig auftretende Nervenkrankheit, die zu Lähmung oder Tod führen kann. Der Mediziner setzte zur Linderung sogenannte Immunglobuline ein. Die sind für die Behandlung verschiedener Krankheiten, aber nicht für die Behandlung von MS zugelassen. Sie können aber unter Umständen helfen.

Die Kasse des Patienten muss der Bezahlung zustimmen, wenn die Medikamente für einen „Off-label-use“ verschrieben werden, also gegen eine Krankheit, die nicht auf der Packung beziehungsweise dem Beipackzettel steht.

Rund 90 MS-Patienten hat der Arzt laut KV seit 2003 mit Immunglobulinen behandelt, und hier beginnt das Problem: Obwohl die KV eine Reihe von (anonymisierten) Schreiben vorlegen kann, in denen speziell die Techniker Krankenkasse (TK) Patienten oder dem Arzt die Kostenübernahme zusagt, verlangt die TK neben anderen Ersatzkassen den Löwenanteil der 16 Millionen Euro für die Jahre 2003 bis 2017. Weitere vier Millionen könnten für 2018 und 2019 dazukommen.

Ärzteorganisation spricht von Trickserei

Das KV-Vorstandsmitglied Günter Scherer erklärte, dass Zusagen der Kassen, spezielle Verschreibungen des Arztes zu übernehmen, nichts wert seien. Immerhin macht die Summe 1,3 Prozent der Honorare aus, die die KV 2019 an alle Berliner Kassenärzte für Behandlungen weiterverteilte.

Scherer wirft den Kassen vor, sie hätten nicht die Einzelfälle geprüft, für die Zahlungszusagen vorgelegen hätten, sondern sich auf die Richtgrößenprüfung zurückgezogen. Dabei werde untersucht, ob ein Arzt die ihm zugebilligten jährlichen Ausgaben überschreitet. Im Gegensatz zur Einzelfallprüfung müsse bei den Richtgrößen nicht die Kasse dem Arzt nachweisen, dass er unwirtschaftlich gehandelt habe, sondern der Arzt müsse seine Unschuld beweisen – und vor allem werde die KV haftbar gemacht, bei der im Gegensatz zum Arzt Geld zu holen sei.

Bislang sei das für den Arzt und die haftende KV juristisch ganz gut gelaufen. Die vier Prozesse, die wegen der Regressbescheide bislang bis vors Landessozialgericht gingen, wurden an den zuständigen Beschwerdeausschuss von Kassen und KV wegen Formfehlern zurücküberwiesen.

Die TK antwortete nicht auf Anfrage des KURIER, sondern verwies auf den vdek, den Verband der Ersatzkassen. Der erklärte, die Off-label-Verordnungen des Arztes seien Gegenstand diverser,  andauernden Verfahren vor den Prüfgremien der KV und den Sozialgerichten, zu denen man sich grundsätzlich nicht äußere.

Kassen: Nur ein Einzelfall

Bei den Forderungen an den Arzt handele es sich um einen „sehr speziellen Einzelfall“. Der Vorwurf Scherers, Kostenübernahme-Zusagen der Kassen seien nichts wert, wären deshalb „grob irreführend“. Scherer verkürze auf den Einzelfall bezogene Aussagen und „verkaufe“ sie fälschlich als allgemeine Richtschnur des Handelns der Kassen. Zu dem Fall könne man nur noch mitteilen, dass „nur in wenigen Ausnahmefällen auf einen überschaubaren Zeitraum befristete schriftliche Kostenzusagen“ an den Arzt beziehungsweise seine Patienten erteilt wurden. Diese wenigen Einzelfall-Kostenzusagen seien „allenfalls von marginalster Bedeutung“.

Eine Position, die Scherer zurückweist, sich dabei aber auf Aussagen des Arztes und seiner Helferin verlassen muss. Die hätten versichert, nicht nur schriftliche, sondern auch eine Vielzahl telefonischer Zahlungszusagen von den Kassen erhalten zu haben.

Die KV selber hatte schon vor Jahren wegen der Budgetüberschreitungen ein Disziplinarverfahren gegen den Arzt eröffnet. Das ruhe aber, weil der Arzt auf die Kostenübernahme-Zusagen verwiesen habe. Man habe ihm zwar geraten, mit der Verschreibung von Immunglobulinen aufzuhören, darauf habe er mit dem Hinweis auf Behandlungserfolge gesagt: „Ich kann nicht anders.“

In Richtung der Patienten gibt Scherer Ratschläge, was Off-Label-Verordnungen zum Beispiel auch bei Krebserkrankungen angeht: „Wenn der Arzt die Behandlung für medizinisch sinnvoll hält, muss der Patient seine Kasse fragen, ob sie die Kosten übernimmt und sich das schriftlich geben lassen.“ Den Ärzten rät er das Gleiche. Zusätzlich müssten sie die medizinische Notwendigkeit und die Ausnahmesituation des Patienten dokumentieren.

Die Bedingungen für Off-label-Verschreibungen
Grundsätzlich haben das Bundessozialgericht 2002 und das Bundesverfassungsgericht 2005 enge Kriterien für den Off-label-use festgelegt und damit, wann die entsprechenden Medikamente ausnahmsweise von den Kassen bezahlt werden müssen. Darunter sind:
– Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor.
– Eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Therapie steht nicht zur Verfügung. 
– Es besteht eine „auf Indizien beruhende, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf". – Es dürfen nur – wenn auch nicht für die zu behandelnde Krankheit – zugelassene Medikamente eingesetzt werden.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat keinen Überblick darüber, wie viel und wie oft Off-label-Präparate verschrieben werden. Das unterliege der ärztlichen Therapiefreiheit. Man bevorzuge „jedoch eindeutig den Einsatz von zugelassenen Arzneimitteln gemäß ihrer jeweiligen Zulassungsbedingungen“. Während für die Anwendung für zugelassene Zwecke hinreichend Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit vorlägen und entsprechend ein behördlich geprüftes und bestätigtes positives Nutzen-Risiko-Verhältnis bestehe, sei das bei Anwendung zugelassener Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassungsbedingungen häufig nicht der Fall.