Soldat verklagt Deutschland auf 150.000 Euro Schmerzensgeld
Bei einem Schießunfall in Brandenburg verlor ein 42-jähriger Berufssoldat ein Auge. Er hat die Bundesrepublik auf Schmerzensgeld verklagt. Am Mittwoch beginnt der Prozess.

Es sieht aus, als hätte Michael Schulze (42) ein Grübchen auf seiner rechten Wange. Auch wenn er nicht lächelt. Doch dieses Grübchen trügt. Schaut man ihm genau ins Gesicht, dann sieht man eine Narbe. Und man erkennt: Das Grübchen ist Ausdruck einer schweren Verletzung. Folge eines Unfalls auf dem Truppenübungsplatz im brandenburgischen Lehnin. Ein Kamerad hatte dem erfahrenen Ausbilder bei einer Häuserkampfübung das rechte Auge und den Wangenknochen weggeschossen. Schulze hatte Glück. Er überlebte die schwere Verletzung. Er hatte einen guten Arzt, der ihm sein Gesicht wiedergab. Seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kämpft sich der Berufssoldat jeden Tag ein Stück mehr ins Leben zurück. Schulze war mehrfach im Auslandseinsatz, doch seit dem Unfall plagen ihn Alpträume, leidet er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Aber nicht das ist für den Soldat die größte Belastung. Der große durchtrainierte Mann fühlt sich alleingelassen - von seinem Dienstherren, der Bundeswehr. Viel reden will er darüber nicht. Vielmehr äußert sich sein bester Freund und Nachbar Jens Wieseke über den Vorfall. „Ob du nach so einem Vorfall mit dem Leben klarkommst, das interessiert offenbar niemanden so richtg“, sagt Wieseke bei einem gemeinsamen Treffen. Er sah Michael Schulze, wie er nach seinem Krankenhausaufenthalt mit Augenbinde zurückkehrte. Wie er litt. „Sein Gesicht sah damals noch nicht so gut aus wie jetzt, eher wie eine Steinbruch.“
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Michael Schulze heißt anders, aber er möchte nicht, dass sein richtiger Name veröffentlich wird. Auch, um seine Familie zu schützen. Er erzählt, dass direkt nach dem Vorfall nur unzureichend ermittelt wurde, dass die Bundeswehr nicht nach einem Verantwortlichen gesucht habe. Er selbst sei nie von seinen Vorgesetzten befragt worden. Ihm sei einmal gesagt worden, er solle die Sache auf sich beruhen lassen. Das aber will er nicht. Er möchte, dass der Vorfall aufgearbeitet wird. Dass das Geschehene „auf den Tisch“ kommt. Nicht er habe einen Fehler begangen, sagt er. Nicht er sei in die Schusslinie gelaufen, wie behauptet werde. Den Fehler habe der Hauptmann begangen, der ihm ins Gesicht geschossen habe. Es könne nicht sein, dass der Fall nach kurzer Zeit schon zu den Akten gelegt worden sei. Deswegen beschreitet Michael Schulze nun den Rechtsweg. Er hat die Bundesrepublik Deutschland auf Schmerzensgeld verklagt.
Am 28. Oktober wird sein Fall vor dem Landgericht in Bonn verhandelt, weil dort noch immer der Sitz des Bundesverteidigungsministeriums ist. „Der Kläger verlangt ein Schmerzensgeld von mindestens 150.000 Euro“, sagt Patricia Meyer, die Sprecherin des Landgerichts, der Berliner Zeitung. Zudem klage der Soldat auch auf den Ersatz aller künftigen materiellen und immateriellen Schäden, sofern sie nicht vom Sozialversicherungsträger übernommen werden.
Mehrtägige Ausbildung im urbanen Häuserkampf
Bei der Übung am 1. Februar 2018, um die es vor Gericht geht, erlitt Schulze einen Jochbein-Trümmerbruch, eine Perforation des Nasenbeins und einen Abriss des rechten Augapfels. Laut Gericht geschah der Unfall während einer mehrtägigen Ausbildung im urbanen Häuserkampf, die aus einem theoretischen und einem praktischen Teil bestanden habe. Es war ein Weiterbildungslehrgang für erfahrene Schützen.
Eine Woche lang war der mutmaßliche Schütze bereits bei dem Lehrgang. Immer wieder probte er mit Kameraden, wie sie in einen unbekannten Raum hineingehen, wie sie die Waffe halten, wie sie andere Soldaten in dem unbekannten Gebäude sichern und mit Stresssituationen umgehen müssen. Der Ausbilder sagt, der Mann, der ihn ins Gesicht geschossen habe, hätte nicht von der Waffe Gebrauch machen dürfen. Er habe die Dienstvorschriften missachtet.
Michael Schulze ist Vater von fünf Kindern. Als ihn das Geschoss aus acht Metern Entfernung das halbe Gesicht weg riss, war sein jüngster Sohn zwei Jahre alt und seine Ehefrau mit dem zweiten Kind im fünften Monat schwanger. Kein Verantwortlicher der Bundeswehr habe sie gefragt, wie es ihr geht, wie sie mit der Situation klarkomme. Niemand habe ihr Hilfe angeboten, erinnert sich Jens Wieseke. Und kein Psychologe kümmerte sich um den Soldaten. Dabei habe die Bundeswehr doch eine Fürsorgepflicht, wundert er sich.
Er habe trotz des Unglücks großes Glück gehabt, erzählt Schulze. Ein Rettungssanitäter sei in seiner Ausbildungsgruppe gewesen, der alles richtig gemacht habe. Der schwerverletzte Soldat kam ins Virchow-Klinikum, das zur Charité gehört. Er wurde dort mehrfach operiert. Ein Arzt kümmerte sich eingehend um ihn, und ging neue Wege, wie Schulze erzählt. Mit einem Drei-D-Drucker sei sein Wangenknochen nachgestellt worden. Der Knochen in seinem Gesicht ist nun aus Titan. Das rechte Auge aus Glas. Jeden Tag muss Schulze nach eigenen Worten dieses Auge herausnehmen und säubern. „Jeden Tag sehe ich mich dabei im Spiegel.“
Für den Soldaten, der dem Ausbilder ins Gesicht geschossen hatte, gab es keine Konsequenzen. Im Gegenteil, sagt Jens Wieseke. Der Mann sei sogar noch befördert worden. „Obwohl nicht einmal genau untersucht worden ist, wie es zu dem Unglück kommen konnte“, sagt er. Schreiben an den Wehrbeauftragten und die Verteidigungsministerin, in der Michael Schulze seine Situation geschildert habe, hätten bisher nichts gebracht.
Erster Gerichtstermin als Gütetermin
Deswegen wandte sich Wieseke im Juli an den Bundespräsidenten. In einem Brief schilderte er die unterlassene Hilfe für den Soldaten, die in seinen Augen nicht vollständigen Ermittlungen zum Schießunfall. Er gab seinem Befremden Ausdruck, wie mit einem Soldaten, der für die Bundesrepublik im Auslandseinsatz gewesen und der nun bei einer Übung verletzt worden sei, umgegangen werde. Ein Oberst im Generalstabsdienst antwortete ihm, dass die geschilderten Umstände „in der Tat schwer wiegend und in dieser Zusammenschau durchaus verstörend“ wirkten. Man habe das Schreiben „zum Anlass genommen, das Bundesministerium der Verteidigung noch einmal auf den von Ihnen geschilderten Fall aufmerksam zu machen“. In einem weiteren Schreiben wird versichert, dass man derzeit einer sorgfältigen und gewissenhaften Aufarbeitung aller Umstände des bedauerlichen Schießunfalls nachgehe.
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Das wird nun auch gerichtlich geschehen, wenn entschieden wird, ob Michael Schulze ein Schmerzensgeld zusteht. Der erste Termin in diesem Zivilverfahren sei zunächst als Gütetermin vorgesehen, sagt die Gerichtssprecherin. Das Gericht werde versuchen, eine gütliche Einigung zwischen den Parteien zu erreichen. Die Bundeswehr äußert sich auf Anfrage nicht zum Fall von Michael Schulze. „Zu laufenden Verfahren sagen wir aus rechtlichen Gründen nichts“, erklärt eine Sprecherin des Verteidigungsminsteriums. Alexander Heinze, der Potsdamer Anwalt und langjährige Freund von Michael Schulze, ist guter Dinge, dass das Verfahren gewonnen werden kann, obgleich es aus seiner Sicht kein Selbstläufer ist. „Eigentlich aber hoffen wir, dass es beim Gütetermin eine sinnvolle, ehrliche und einvernehmliche Einigung geben wird“, sagt der Anwalt.
Michael Schulze hat jeden Tag Schmerzen. Er muss sogar aufpassen, wenn er Kaffee trinkt. Dabei ist es ihm schon passiert, dass er die Tasse fallen ließ, weil sich die Hitze des Getränks über die Schrauben im Kiefer auf die Metallplatte in seinem Gesicht übertrug. Er weiß nicht, wie er nachts liegen soll, er kann nicht mehr aus einem Flugzeug springen, nicht mehr Sport treiben wie früher. Er sagt, dass er auch mit seinen Kindern nicht mehr herumtollen kann. Der Soldat hat mittlerweile die Uniform wieder angezogen. Er geht jetzt wieder arbeiten - vier Stunden am Tag.