Künftig ein Testgebiet: Der Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain, der bis 1992 Leninplatz hieß, wird nach niederländischem Vorbild umgebaut.
Künftig ein Testgebiet: Der Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain, der bis 1992 Leninplatz hieß, wird nach niederländischem Vorbild umgebaut. Berliner Kurier/ Volkmar Otto

Immer wieder sterben Radfahrer, weil sie von abbiegenden Lastwagen getötet werden. Um solche Zusammenstöße zu verhindern, holt sich Berlin Rat in den Niederlanden. Mit einem Modellversuch will der Senat ermitteln, ob der Umbau von Knotenpunkten nach niederländischem Vorbild die Zahl der Unfälle senkt. Jetzt zeichnet sich ab, welche beiden Berliner Straßenkreuzungen in absehbarer Zeit als erste neu gestaltet werden. Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass der Platz der Vereinten Nationen in Friedrichshain ein Schauplatz des Modellversuchs sein wird, sagte Jan Thomsen, Sprecher von Verkehrssenatorin Regine Günther (Grüne). Diskutiert werde auch, ob der Knotenpunkt Oranienstraße/Lindenstraße in Kreuzberg umgebaut wird. „Dazu gibt es aber noch Abstimmungsbedarf“, so Thomsen. Gesprächsbedarf sieht auch die Fußgängerlobby. Sie befürchtet „größere Behinderungen und Gefahren“ für Passanten, warnte ihr Sprecher Roland Stimpel.

Gute Kreuzungen beugen Unfällen vor, ist man beim Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) überzeugt. Geschützte Kreuzungen nach niederländischem Vorbild gehören dazu. Dort gilt: sehen und gesehen werden. Ein wichtiges Element solcher Knotenpunkte sind vorgezogene Haltelinien für Radfahrer. Während Radler in Deutschland in einer Linie mit Autos und Lastwagen an der Ampel auf Grün warten, dürfen sie in den Niederlanden noch einige Meter weiter fahren. Ihre Haltelinie befindet sich erst unmittelbar an der querenden Straße. Davor erstreckt sich ein baulich geschützter Wartebereich. „Damit sind sie nicht nur für andere Verkehrsteilnehmende sichtbar, sie haben auch eine kürzere Strecke zum Überqueren. Zudem dürfen sie losfahren, bevor der Kfz-Verkehr abbiegen darf“, erklärte Berlins ADFC-Sprecherin Carolina Mazza.

Ein weiteres Element sind kleine Verkehrsinseln an den Kreuzungsecken. „Sie zwingen rechts abbiegende Autos, langsamer zu fahren, da sie in einem sehr engen Radius abbiegen müssen“, so Mazza. „Das ermöglicht zudem den Blickkontakt mit entgegenkommenden Radfahrenden.“

Größere Baustellen drohen

Knotenpunkte dieser Art soll es auch in Berlin geben, heißt es in der Verkehrsverwaltung. „Wir haben ein Projekt zur Umsetzung holländischer Kreuzungsdesigns gestartet“, sagte Thomsen. Ende 2019 gab es Workshops, zu denen Fachleute vom niederländischen Beratungsunternehmen Royal Haskoning DHV nach Berlin eingeladen wurden. „Berliner Kreuzungen wurden beispielhaft analysiert und Skizzen für mögliche Neuplanungen entworfen“, so der Sprecher. „Die Varianten wurden auch mit Experten aus Forschung und Zivilgesellschaft sowie der Polizei diskutiert.“

Nun zeichnet sich die nächste Stufe des Modellversuchs ab: die praktische Erprobung. „Aktuell prüfen wir in Zusammenarbeit mit dem Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg den Umbau zweier Kreuzungen nach modifiziertem niederländischen Vorbild – also etwa mit verschwenkten Radfahrstreifen und vorgelagerten Verkehrsinseln“, sagte Thomsen. „Es wären die ersten Kreuzungen nach diesem Design in Berlin.“

Im Straßen- und Grünflächenamt des Bezirks geht man davon aus, dass der Umbau in absehbarer Zeit beginnen wird. „Wir wollen den Platz der Vereinten Nationen und den Knotenpunkt Oranienstraße/Lindenstraße 2021 zu Modellkreuzungen gestalten“, sagte Amtsleiter Felix Weisbrich. Das seien keine trivialen Projekte, größere Baustellen seien zu erwarten. Doch der Aufwand lohne sich: „Abbiegebeziehungen werden durch Verkehrsinseln geschützt, die einen steileren Abbiegewinkel erfordern.“ Weisbrich geht davon aus, dass der Umbau die Unfallzahlen verringern wird.

Doch beim Fachverband Fußverkehr Deutschland, kurz FUSS, sieht man die angeblichen „Wunderkreuzungen“ sehr skeptisch. „Das niederländische Kreuzungsdesign kann für Fußgänger zu kleinen Umwegen führen. Das wäre noch zu verkraften. Aber es drohen größere Behinderungen und Gefahren, wenn Radfahrer nicht mehr mit den Kraftfahrzeugen vor einer Ampel halten, sondern erst dahinter, direkt an der Kreuzung. Denn dann kreuzen bei Fußgänger-Grün Radfahrer den Weg.“, sagte FUSS-Sprecher Roland Stimpel. Folge für die Fußgänger: Sie kommen schlechter auf die Fahrbahn und schlechter wieder herunter. „Im schlimmsten Fall kommt man von der Fahrbahn gar nicht mehr weg, weil ein Radweg zu dicht befahren ist. Dann muss man sich entweder zwischen die Radfahrer stürzen oder man steht noch da, bis die Autos wieder Grün bekommen und ihre Fahrer hupen und drängeln“, warnte Stimpel.

Berliner Unfallforscher hält Kreisverkehre für sinnvoller

Siegfried Brockmann, der die Unfallforschung der Versicherer leitet, teilt die Bedenken der Fußgängerlobby. Gerade in Berlin, wo aggressiver gefahren wird und es verhältnismäßig viele Radfahrer gibt, entstünden Risiken für Fußgänger, sagte er dem KURIER. Auch Radfahrer müssten mit neuen Herausforderungen zurechtkommen. „Wenn viele Radfahrer vor der Haltelinie warten, stehen sie dem Querverkehr im Weg“, so Brockmann. Angesichts der zu erwartenden Konflikte hält er Kreisverkehre für sinnvoller.

Wie berichtet sehen die Unfallforscher des Gesamtverbands der Versicherungswirtschaft das niederländische Kreuzungsdesign grundsätzlich kritisch. Brockmann und seine Mitstreiter bezweifeln, dass es tatsächlich die Sichtbeziehungen verbessert. „Fahrversuche zeigten, dass ein direkter Sichtkontakt bei einer fünf bis sechs Meter abgesetzten Furt nicht hergestellt werden konnte“, lautete ihr Fazit. „Zudem funktionierten die ab 2022 europaweit vorgeschriebenen Abbiegeassistenten bei diesem Kreuzungsdesign nicht mehr zuverlässig.“ Und so bestehe weiterhin die Gefahr, dass rechts abbiegende Fahrzeuge Radfahrer erfassen – und töten.

Immerhin: Diesen Kritikpunkt hat der Senat ausgeräumt. „Wir wollen das holländische Design grundsätzlich mit getrennter Signalisierung für Auto- und Radverkehr verbinden, sodass der Konflikt gar nicht erst auftritt“, sagte Jan Thomsen. „Dann bräuchte ich aber diese Kreuzung gar nicht, weil sie ja angeblich genau den Abbiegekonflikt im Vergleich zur Standardkreuzung entschärfen sollte“, entgegnete Siegfried Brockmann. „Bei getrennter Signalisierung habe ich den dort auch nicht mehr. Wenn sie dazu aber nicht dient, wozu dann?“

Es gibt also noch einiges zu diskutieren – und zu planen. „Fertige Entwürfe für das konkrete Design liegen noch nicht vor“, so Thomsen. Auch die Bedenken der Fußgängerlobby seien „breit diskutiert“ worden. „Sie werden in der Planung, die noch nicht fertig ist, berücksichtigt. Der Modellversuch dient gerade dazu, auch die möglichen Probleme des niederländischen Designs zu erkennen und zu lösen.“

Währenddessen schlägt Berlins Fahrradlobby schon die nächsten Kreuzungen vor, die nach niederländischer Manier umgebaut werden sollten. „Auch der Platz der Luftbrücke in Tempelhof/Kreuzberg und der Knotenpunkt Mollstraße/Otto-Braun-Straße in Mitte würden sich eignen“, sagte Carolina Mazza.