Auf den Spuren der Weißen Frau
Anna Sydow: Als Mätresse residierte sie im Jagdschloss Grunewald, als Gefangene starb sie in der Spandauer Zitadelle, als Todesengel macht sie noch heute von sich reden.

Anno Domini 1598, in der ersten Nacht des Jahres, soll sie ihm erschienen sein, wie aus dem Nichts, in den Gemächern seines Residenzschlosses: eine Frau, weiß gekleidet, die Frau, die seines Vaters Mätresse war, die er, der Sohn, einkerkern ließ, entgegen seinem Versprechen, und die seit etwas mehr als 22 Jahren tot ist.
Plagt ihn sein Gewissen, empfindet er Reue? Träumt er, wacht er?
Eine Woche später haucht Johann Georg, Markgraf von Brandenburg, Kurfürst und Erzkämmerer des Heiligen Römischen Reiches, im Alter von 72 Jahren sein Leben aus. Der Legende nach ist die Frau, die erstmals am 1. Januar 1598 als Geist im Cöllner (Berliner) Schloss in Erscheinung getreten ist, indem sie den sterbenden Fürsten heimsuchte, die ruhelose Seele der Anna Sydow.

Raus in die Geschichte!
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Ein trüber Freitagvormittag: Der Regen hat sich verzogen, das Grau im Himmel ist geblieben, es will nicht hell werden. Die Spandauer Zitadelle wird gleich für den Publikumsverkehr öffnen. Die von einem Wassergraben umschlossene Anlage ist eine der besterhaltenen Festungen der Hochrenaissance in Europa; sie wurde 1197 erstmals als Burg erwähnt, 1559 bis 1594 zur Festung ausgebaut, von Joachim II., Beiname Hector, und Johann Georg, seinem Sohn. Die Zitadelle ist eine Geschichtsinsel mit einer Burg als Kern, von der noch Bergfried (Wehrturm) und Palas (Hauptgebäude mit Wohn- und Festsaal) zeugen.
Diese Insel hat viel zu erzählen: vom Schwedeneinfall 1675; von Napoleon Bonaparte 1806; von ihrer Belagerung 1813; vom Reichskriegsschatz, der 1874 bis 1914 im Juliusturm, Berlins Version des Tower of London, lagerte (Goldmünzen im heutigen Wert von zirka 1,3 Milliarden Euro, verstaut in 1200 Kisten); vom Nervengas Tabun, das ab 1935 hinter ihren Mauern erforscht wurde; von ihrer Übergabe an die Rote Armee 1945.
Und von Anna Sydow.

Auch in der Zitadelle soll sie als Weiße Frau spuken. „Ich habe sie noch nicht gesehen“, sagt Sammlungsleiterin Carmen Mann zur Begrüßung und schmunzelt. Glaubt sie nicht an Geister? „Ich bin sehr rational. Aber es gibt schon mal mystische Momente.“ Der ecken-, nischen- und schattenreiche Hof ist menschenleer, so ein altes Gemäuer kann den Sinnen nicht nur nachts Streiche spielen. Normalerweise ist hier allerhand los. Die Zitadelle beherbergt das Stadtgeschichtliche Museum Spandau und ein Standesamt; sie ist auch Veranstaltungsort für Konzerte, Feste und Märkte.
Bevor es in den Juliusturm geht, wo Anna Sydow gefangen gehalten wurde, ist ein Blick in das ehemalige Proviantmagazin angeraten. Dort präsentiert sich die Dauerausstellung „Enthüllt – Berlin und seine Denkmäler“. Der Großteil der Figuren, fast alle aus Carrara-Marmor, säumte einst die Siegesallee im Tiergarten. Auch die beiden Männer, die Anna Sydows Schicksal wurden, stehen in der Ausstellung. In einer Ecke versteckt sich Joachim II.; ihm fehlt der Kopf.
Der Kurfürst veranlasste nicht nur den Ausbau der Zitadelle, sondern auch den Bau des Residenzschlosses, des Jagdschlosses „Zum gruenen Walde“ (Grunewald) und des Schlosses Köpenick. Um seinen Baueifer und auch seine Prunksucht zu finanzieren, förderte er die Ansiedlung der Juden, die hohe Sondersteuern zahlen mussten. Das Geld reichte trotzdem nicht.
Johann Georg, sein Sohn, beansprucht die Mitte des Raums: gewaltig, mindestens zweieinhalb Meter groß, gebieterisch, die linke Hand zur Faust geballt und auf einer Karte von Spandau ruhend. „Dem würde ich nicht nachts begegnen wollen“, scherzt Carmen Mann. Komplett ist auch er nicht mehr. Die Nasenspitze, die rechte Hand und ein Teil des linken Fußes sind abgebrochen.
Und noch etwas ist ihm abhandengekommen: der untere Teil des Kreuzes, das er um seinen Hals trägt. Dem einen fehlt der Kopf, dem anderen das Stück des Kreuzes, das die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen symbolisiert: Wer will, kann darin einen nicht irdischen Fingerzeig sehen.
Wie ist Anna Sydow an diese beiden Kerle geraten?

Die Wege von Joachim II. und Anna Sydow kreuzten sich um 1550. Da weilte der Kurfürst mit seiner Gemahlin Hedwig zur Jagd in der Schorfheide. Es heißt, sie sei auf Schloss Grimnitz durch eine morsche Decke in das Geweih einer Jagdtrophäe gestürzt, sodass sie fortan verkrüppelt war. In der 24-jährigen Anna, genannt die „schöne Gießerin“, Ehefrau des Geschützgießers Michael Dieterich, fand der zwanzig Jahre ältere Fürst nicht nur eine neue Jagdgefährtin, sondern auch eine neue Bettgespielin.
Wenig später nahm der Kurfürst Anna Sydow, so lautete ihr Mädchenname, mit sich. Ihr Mann und ihre drei Kinder blieben zurück in Grimnitz, er als Vorsteher der kurfürstlichen Gießhütte. Gut zwanzig Jahre blieb Anna an der Seite Joachims, bis zu seinem plötzlichen Tod kurz vor seinem 66. Geburtstag. Sie gebar ihm zwei Kinder: Magdalene, nach der ersten Ehefrau des Kurfürsten genannt, später von ihm zur Gräfin von Arneburg geadelt, und Andreas, der im Alter von sieben Jahren starb.
Die Jagd war des Kurfürsten größte Leidenschaft. Mit seiner Mätresse hielt er sich oft und lange im Jagdschloss Grunewald auf. Es ist das älteste erhaltene Schloss der Hohenzollern in Berlin. Im März 1542 wurde sein Grundstein gelegt, seitdem gab es mehrere Umbauten. Es ist heute ein Museum; es präsentiert neben Gemälden von Lucas Cranach dem Älteren und dem Jüngeren Werke deutscher und niederländischer Maler des 15. bis 19. Jahrhunderts, dazu eine Jagdzeugsammlung.
Das Volk murrt über die Vielweiberei des Kurfürsten
Das Jagdfieber des Kurfürsten und seine Liebschaft mit Anna Sydow empfanden nicht wenige Zeitgenossen als überaus schändlich. Die Landstände warfen ihm vor, „stets im holze (zu) ligen und der jagdt (zu) gewarten“, fürs Regieren hingegen wenig Zeit aufzubringen. Nicht wenige Untergebene murrten, dass er sich mit seiner Geliebten öffentlich zeigte und sie zur Jagd mitnahm, wobei sie sich wie ein Mann kleidete. Vielweiberei (Ehebruch) war eine Sünde und stand unter Strafe. Eigentlich.
Nebelschwaden ruhen an diesem Morgen in den Baumkronen, über dem Grunewaldsee und dem Schloss. Auch hier gehe der Geist von Anna Sydow um, raunt Volkes Mund. Als solle Gänsehaut gar nicht erst aufkommen, sagt Kathrin Külow zu Beginn des Rundgangs: „Ich habe sie noch nicht gesehen.“ Der Schlosshof ist menschenleer, nur der Hausmeister lässt sich ab und zu blicken.
Die Schlossbereichsleiterin betritt das Gebäude und steigt über die Haupttreppe in das erste Obergeschoss. Im Westflügel waren die Gemächer von Kurfürst Joachim II., im Ostflügel die der Kurfürstin, später die von Anna Sydow.
Gemälde an Gemälde hängt in den Räumen, die alle in einer anderen Farbe gestrichen sind. Faszinierend und zugleich irritierend ist, wie lebendig die Augen in den Gesichtern der Gemalten wirken. Niemand ist hier oben. Und doch beschleicht einen das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden.

An den taubenblauen Wänden des letzten Raums im Westflügel hängen neun Gemälde. Ein Porträt von Joachim II. ist darunter, gemalt 1562; der Fürst trägt auffällig viel Schmuck. Aus zwei kleineren Bildern zu seiner Linken blicken Magdalene von Sachsen, seine erste Frau, die früh starb, und Hedwig von Polen, seine zweite, die schwer verunglückte.
Vor den Augen dieser drei, in der Mitte des Raums, befindet sich eine weiße Holztür mit schwarzen Eisenbeschlägen. Kathrin Külow öffnet sie. Zum Vorschein kommt ein enger Wendelstein (ein Außenturm mit einer Wendeltreppe). Seine steinernen Stufen winden sich nur nach oben, ins zweite Obergeschoss; sie führten einst auch nach unten.
Es geht zurück zur Haupttreppe und von dort ins Erdgeschoss, in die Große Hofstube. Hier hängt ein weiteres Porträt von Joachim II., gemalt um 1570 von Lucas Cranach dem Jüngeren. Eine unauffällige weiße Eckwand steht zur Rechten des Fürsten. Hinter ihr begann seinerzeit der kleine Wendelstein.
Kathrin Külow zeigt auf eine Ecke an der Decke – ein Stück der Treppe lugt hervor – und dann auf die weiße Wand. „Dahinter soll Anna Sydow auf Geheiß des Kurfürsten Johann Georg lebendig eingemauert worden sein.“
Dass Anna Unheil dräut, hatte Joachim II. geahnt. Er ließ sich von seinem Sohn versprechen, sie nach seinem Ableben zu schonen und zu schützen. Später befahl er es ihm sogar. Johann Georg hielt sich weder an das eine noch das andere, er setzte Anna 1571 gefangen. Außerdem entzog er ihrer Tochter Magdalene den Adelstitel und verheiratete sie mit einem Finanzbeamten.
Wilhelm II. untersagt die Suche nach einer Leiche
Woher kommt die Geschichte, Anna Sydow sei im Jagdschloss lebendig eingemauert worden?
Vorstellbar sei, sagt Kathrin Külow, dass manch ein Zeitgenosse die Mätresse so verachtete, dass er ihr so ein Schicksal wünschte. So wird aus einem Wunsch ein Gerücht, aus dem Gerücht eine Tatsache.
Anna Sydow ist nur ein Urbild der Weißen Frau. Viele Adelshäuser in Europa haben so ein Hausgespenst, hebt es doch die Bedeutung der Dynastie. Aus dem 15. Jahrhundert stammen die ältesten bekannten Berichte, im 17. Jahrhundert fanden sie ihre größte Verbreitung, sich verselbstständigend durch Wundergläubigkeit und Aberglaube, Lug und Trug.
Offenbar nahmen selbst die Hohenzollern das Gerücht, Anna Sydow sei im Jagdschloss Grunewald lebendig eingemauert worden, ernst; vielleicht wollten sie an der Gruselgeschichte auch nur nicht kratzen. Bei den letzten Umbauten um 1900 sei Kaiser Wilhelm II. strikt dagegen gewesen, die ominöse Wand zu öffnen, erzählt Kathrin Külow. Dann erwähnt sie noch, dass Untersuchungen des Gebäudes auf Hohlräume in den 1970er-Jahren keine Anhaltspunkte auf so ein Grab ergeben hätten.
Das Berliner Schloss wird zur Bühne der Weißen Frau
Den Überlieferungen zufolge ist die Weiße Frau am häufigsten im Berliner Schloss erschienen, meist nachts, stets wortlos, manchmal geräuschvoll, Türen knallend, sogar wütend, Steine werfend oder Schläge austeilend, aber auch fürsorglich, Wiegen bewachend oder Kleinkinder herumtragend.
Der Todesengel jedoch ist ihre Paraderolle. Lang ist die Liste derer, vor deren Ableben sie sich im Berliner Schloss gezeigt haben soll, wobei nicht alle dort verstarben: Kurfürst Johann Sigismund 1619, Elisabeth Charlotte von der Pfalz 1660, Luise Henriette von Oranien 1667, Kurfürst Friedrich Wilhelm 1688, König Friedrich I. 1713, König Friedrich Wilhelm II. 1797, König Friedrich Wilhelm III. 1840, König Friedrich III. 1888. Mehrmals habe einer Sichtung allerdings „ein Mißverständniß, Verwechselung mit einer Gardine etc., ja selbst absichtlicher Betrug zum Grunde gelegen“, heißt es in einem Bericht. So spukte mal ein Küchenjunge, mal ein Soldat.
Auch in einer Sommernacht des Jahres 1844 soll die Weiße Frau im Schloss aufgetaucht sein, händeringend. Wenig später verübte Heinrich Ludwig Tschech, ehemaliger Bürgermeister von Storkow (Mark), ein Attentat auf König Friedrich Wilhelm IV., das misslang. Fünf Monate saß Tschech in der Zitadelle, dann fiel sein Kopf unter dem Beil des Scharfrichters.

Zurück in Spandau stellt sich die Frage, welchen Grund Johann Georg gehabt hat, Anna Sydow im Juliusturm gefangen zu halten. Das Motiv liegt im Erbe seines Vaters: Schulden in Höhe von 2,5 Millionen Goldgulden (nach heutiger Kaufkraft rund 1 Milliarde Euro). Auf der Suche nach Schuldigen und Sündenböcken ließ er Häuser von Günstlingen seines Vaters durchsuchen und versiegeln. Juden wurden misshandelt, Haushalte geplündert, Schuldscheine verbrannt.
Den Münzmeister Lippold Ben Chluchim, Vorsteher aller Juden in der Mark, ließ er rädern und vierteilen, nachdem er sich unter Folter der Zauberei und des Giftmordes an Joachim II. schuldig bekannt hatte. Die Juden wurden aus der Mark vertrieben, ihr Besitz eingezogen.
In den Augen von Johann Georg war Anna an der Finanzmisere des Hofs mitschuldig. Auch sie war ein Günstling. Nachdem er sie weggesperrt hatte, nahm er ihr Hab und Gut, das nicht gering gewesen sein dürfte.
Der Tod erlöste Anna Sydow nach vier Jahren Kerker
Wuchtig – und etwas schief – reckt sich der aus roten Ziegelsteinen gemauerte Juliusturm gut 30 Meter in die Höhe. Er ist das älteste Bauwerk Berlins, Anfang des 13. Jahrhunderts begründet. Warum er den Namen Julius trägt, ist nicht bekannt. Den Eingang schützten eine Tresor-, Gitter- und Stahltür. Innen schraubt sich eine hölzerne Wendeltreppe 153 Stufen hoch. Der Zutritt erfolgte früher über das heutige Obergeschoss, wo einst die Wohnräume für die Fürstenfamilie begannen, ihr Rückzugsort im Kriegsfall.
Ein Eisengitter in Form und Größe eines Kanaldeckels liegt am Fuß der Treppe. Da unten, im zweigeschossigen Sockel des Turms, befand sich das Verlies, in das damals kein Tageslicht drang. Es ist nicht öffentlich zugänglich.
„Wir wissen wenig über Anna Sydows Gefangenschaft“, bedauert Carmen Mann. „Es heißt, sie soll sehr hart behandelt worden sein.“ Von einer bis zu 3,6 Meter dicken Mauer umgeben, Feuchte und Kälte ausgesetzt, harrte sie vier Jahre lang aus, bis zum 16. November 1575, als der Tod sich der 50-Jährigen erbarmte.
Im Jahr 1940, in der Nacht zum 26. Mai, soll die Weiße Frau letztmalig im Berliner Schloss gesehen worden sein. Es lag fünf Jahre später in Schutt und Asche.
Info:
- Zitadelle Spandau, Am Juliusturm 64, 13599 Berlin, Tel. 030 / 354 944-0, info@zitadelle-berlin.de, Anfahrt: U-Bahn U7 und Bus X33 bis Zitadelle
- Jagdschloss Grunewald, Hüttensee 100 (am Grunewaldsee), 14193 Berlin, Tel. 030 / 813 35 97, schloss-grunewald@spsg.de, Anfahrt: Bus X10 und 115 bis Pücklerstraße