Tragödie
Todesfall Ronja: Anatomie eines Versagens
Die 13-Jährige geriet unter eine Straßenbahn. Ihr Tod lässt keine Ruhe. Würde sie noch leben, wäre die Rettung besser organisiert worden?

Markus Wächter
Ronjas Eltern haben eine Laterne auf das Grab gestellt – mit einer Kerze darin, die dauerhaft brennt. In der Erde steckt ein Island-Fähnchen, das an eine gemeinsame Reise von Vater und Tochter erinnert. Steine, die Ronja auf Korfu sammelte, liegen in einer Reihe. Daneben steht eine Holzbank, in deren Sitz der Vater ein Einhorn geschnitzt hat. Jeanette K. und Uwe L. kommen immer wieder an das Grab ihrer Tochter. Sie sitzen dann auf der Bank und versuchen, die „unglücklichen Umstände“, wie der Richter sagte, zu begreifen. Jeden Tag denken sie über den Tod ihrer Tochter nach und jede Nacht.
Ronjas Leben endete am 12. Juni 2018 um 17.05 Uhr. Sie war gemeinsam mit ihrer Freundin in Rummelsburg auf dem Fahrrad unterwegs. Die Mädchen wollten Pizza holen. Sie hatten einen Vortrag für die Schule zum Thema „Bulimie“ erarbeitet und wollten sich jetzt eine Belohnung gönnen.
Als Ronja, dreizehn Jahre alt, um 16.33 Uhr vor einer Haltestelle auf dem Blockdammweg die Gleise überquerte, bemerkte sie die nahende Straßenbahn nicht. Der Zug, der noch etwa 30 km/h schnell war, rammte sie um. Sie wurde unter dem Fahrgestell eingeklemmt. In 98 Prozent solcher Fälle sterben die Unfallopfer. Ronja aber lebte und war ansprechbar. Als Feuerwehrleute die Bahn anhoben, um sie hervorzuziehen, stürzte der 34 Tonnen schwere Zug ab und erdrückte sie. Zwei Feuerwehrmänner, die versucht hatten, zu Ronja unter den Waggon zu robben, wurden schwer verletzt.
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War es „tatsächlich Schicksal“?
Am 28. Oktober wäre Ronja sechzehn Jahre alt geworden. Ihre Eltern und Geschwister sind an diesem Tag nicht in der Stadt gewesen. „An Ronjas Geburtstag an ihrem Grab stehen, das können wir noch lange nicht“, sagt Uwe L. an diesem Novembertag. Er und Jeanette K. haben je eine rote Rose für die Tochter dabei. Sie könnten ihr Kind nicht ziehen lassen, ohne alles getan zu haben, um aufzuklären. Damit endlich mehr Licht in das Dunkel kommt. Was genau ist am späten Nachmittag des 12. Juni 2018 passiert? Warum musste Ronja sterben?
Zwei Einsatzleiter der Feuerwehr sind angeklagt worden wegen fahrlässiger Tötung des Mädchens und fahrlässiger Körperverletzung ihrer Kollegen. Der Prozess gegen die Männer begann am 31. August dieses Jahres vor dem Amtsgericht Tiergarten, er wurde weit über Berlin hinaus beachtet. Auch von den Einsatzleitern aller Rettungsdienste. Weil der Ausgang des Prozesses sich auf ihre eigene Arbeit auswirken würde, auf ihren Mut, auf ihr Zutrauen, auf ihre Entschlossenheit, an Unfallorten schwierige Entscheidungen zu treffen.
Als der Richter am 5. Oktober seinen Freispruch verkündete, war die Erleichterung unter den Feuerwehrleuten und in der Behördenleitung groß. Von einer Verkettung vieler unglücklicher Umstände hatte im Prozess sogar die Anklagevertreterin gesprochen und schließlich selbst einen Freispruch beantragt. Von einem „unabwendbaren Ereignis“ sprach der Richter. Das sei „tatsächlich Schicksal“ gewesen. Aber war es das wirklich? Schicksal?
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und des Gerichts wurden nach dem Freispruch beendet. „Wir wollten Klarheit und Recht für unser Kind. Doch wir sind am Ende kaum einen Schritt weiter mit dem, was wir über zwei Jahre versucht haben zu erkämpfen“, sagt Uwe L. jetzt. „Tag für Tag quält uns die Tatsache mehr, dass der Prozess eigentlich nicht das gebracht hat, was wir anstrebten: zumindest eine nahezu vollständige Aufklärung.“ Und aufgeklärt ist der Fall für Jeanette K. und Uwe L. nicht.
Niemand übernahm die Verantwortung
Ronjas Eltern geht es wie vielen anderen Angehörigen, die nach dem Tod eines ihrer Liebsten einen Gerichtssaal betreten und inständig gehofft haben, dass dieser Saal der Ort sein möge, in dem die Frage der Schuld endgültig geklärt wird. Dass sie durch das Urteil des Gerichts erlöst würden aus ihren Grübeleien. So hatten es etwa die Angehörigen der 21 Menschen gehofft, die vor zehn Jahren nach der Loveparade in Duisburg starben. Niemand übernahm vor Gericht die Verantwortung für das, was geschehen ist.
Auch Ronjas Eltern haben vergeblich gehofft. Was sie aber glauben: Ihr Kind könnte deshalb gestorben sein, weil am Tag des Unglücks gravierende Fehler in der Zusammenarbeit zwischen der Berliner Feuerwehr und den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) passiert sind. Und diese Fehler sind vor Gericht nur zum Teil behandelt worden.
Im Prozess ging es um die Frage, ob die Einsatzleiter an Ronjas Tod schuld gewesen sind oder nicht. Ein vom Gericht bestellter Gutachter kam zu dem Schluss: Die beiden treffe keine individuelle Schuld, auch wenn die Rettungsmittel, die sie und ihre Kollegen benutzten, unzureichend waren. Nicht Gegenstand des Prozesses war das offensichtliche strukturelle Versagen der BVG, das mit zu dem Unglück führte. Und so blieben Fragen offen. Viele Fragen.

Die drei Verhandlungstage sind eine Qual gewesen für Jeanette K. und Uwe L., die als Nebenkläger im Prozess saßen. Eine Qual war es, den Ausführungen der Feuerwehrleute zuzuhören, einige von ihnen konnten kaum sprechen vor Kummer. Eine Qual war es, dem technischen Gutachter zu folgen, der erläuterte, mit welchem Fuß Ronja an welcher Stelle des Fahrgestells eingeklemmt war und deshalb nicht herausgezogen werden konnte. Die Mutter lauschte mit steinerner Miene, der Vater machte sich mit dem Kugelschreiber Notizen. Noch bevor der Rechtsmediziner erklärte, welche Verletzungen der Leichnam aufwies, welche Knochen gebrochen waren, verließ die Mutter den Gerichtssaal.
Eine Qual war es für die Eltern, von all den Missverständnissen und Versäumnissen zu erfahren, die den Versuch, Ronjas Leben zu retten, begleiteten und über die vor Gericht gesprochen wurde. Dazu gehörte auch das allgemeine Unwissen über die Kompetenzen eines Verkehrsmeisters der BVG.
Nach dem Unfall waren relativ schnell Feuerwehrleute vor Ort gewesen, um zu helfen. Auch der Verkehrsmeister der BVG war eingetroffen. Ihn sahen die Feuerwehrleute als fachlichen Ansprechpartner an, was sich vor Gericht jedoch als Irrtum herausstellte. Ein Verkehrsmeister, wurde dort erklärt, ist nur dafür zuständig, dass der Verkehr fließt. Von Straßenbahntechnik, geschweige denn vom Anheben der Züge, hat er nur wenig Ahnung.
Erschütternde Antworten auf die Fragen nach der BVG
Die Feuerwehrleute am Unfallort gingen davon aus, dass Ronja, obwohl ansprechbar, lebensgefährlich verletzt war. Sie mussten, das war ihre Einschätzung der Lage, das Kind so schnell wie möglich herausziehen und wollten vom Verkehrsmeister wissen, wann der Kran eintreffe. Der BVG-Mann, so wurde es vor Gericht rekonstruiert, rief bei seinen Kollegen an. Man wisse es nicht, bekamen die Feuerwehrleute zur Antwort. Also entschlossen sie sich, die Bahn mit eigenen Mitteln anzuheben. Einer der Feuerwehrleute lag die ganze Zeit im Schotterbett neben der Bahn und hielt den Kontakt zum Mädchen. Gegen 17 Uhr begannen sie, den Waggon mit sogenannten Büffelhebern anzuheben. Der Waggon schwenkte nach links, die Wagenheber kippten um, die Straßenbahn stürzte neben die Schienen ins Gleisbett. Die Büffelheber und die Unterlagen, auf denen sie standen, waren ungeeignet, wie der technische Gutachter vor Gericht feststellte.
Erschütternd für Ronjas Eltern und alle anderen Zuhörer auch die Antworten auf die Frage, warum der Kran der BVG nicht rechtzeitig am Unfallort ankam – der Kran, mit dem eine Straßenbahn sicher angehoben werden kann. So sagte der Verkehrsmeister der BVG zum Erstaunen der Zuhörer aus, dass der Kranmaschinist des Verkehrsunternehmens zunächst mit einem normalen Rüstwagen losgefahren sei. Unterwegs habe er umgedreht und sei zum BVG-Betriebshof in Lichtenberg zurückgefahren, um dann erst den Kran zu nehmen. Was hatte der Mann anfangs für Informationen über den Unfall? Wusste er nicht, dass ein Mensch unter einer Tram liegt? Was wusste die BVG-Leitstelle? Gibt es Aufzeichnungen darüber? Wer hat den Kran gerufen? Der Verkehrsmeister? Wurde der Kran, Baujahr 1986, regelmäßig gewartet, um im Notfall sofort ausrücken zu können? Fragen über Fragen, die die zuständigen BVG-Mitarbeiter hätten vor Gericht beantworten können. Doch es ging im juristischen Sinne nicht um sie, sondern um die beiden angeklagten Feuerwehrleute. Bei der BVG heißt es, der Kran habe nur eine halbe Stunde bis zur Unfallstelle gebraucht, eine Angabe, die bei sämtlichen beteiligten Feuerwehrleuten Kopfschütteln hervorruft.
Der Verkehrsmeister, der inzwischen Rentner ist, fläzte auf dem Zeugenstuhl. Mehrere Feuerwehrleute hatten vor Gericht ausgesagt, der Mann habe seine Daumen gehoben bei der Frage, ob der Zug mit den Büffelhebern angehoben werden könne. Vor Gericht sagte er jedoch, das habe er nicht getan – und belastete damit die Feuerwehr. Dem ging der Richter nicht nach.

Der Kran traf nach Aussage der Feuerwehrleute gegen 17.50 Uhr ein. Auf der Fahrt zum Unfallort soll er noch einen Bremsenschaden gehabt haben. Ob das stimmt, war für die Justiz nicht relevant. Als der Kran angekommen sei, „war der Drops gelutscht“, sagte der Verkehrsmeister mit wegwerfender Geste vor dem Richter.
Mit jeder Zeugenaussage sei ihr Kind ein weiteres Mal gestorben, sagen die Eltern am Grab. Und dass sie seit Ronjas Tod durch die Hölle gegangen sind. Am Unglückstag selbst wurden sie von einem Notfallseelsorger betreut. Von der Polizei, sagen sie, hätten sie bis zum Prozessbeginn im September dieses Jahres nichts gehört. Auch nicht von der Feuerwehr, die sich nicht ein einziges Mal nach dem Befinden der Hinterbliebenen erkundigte – wohl, um nicht den Eindruck eines Schuldeingeständnisses zu erwecken. Das, so meinen Jeanette K. und Uwe L., ähnele dem Verhalten der Behörden gegenüber den Hinterbliebenen des Attentats vom Breitscheidplatz oder auch des Loveparade-Unglücks in Duisburg. Die Eiseskälte der Bürokratie – sie haben sie spüren müssen.
„Die Staatsanwältin ist nie einen Schritt auf uns Nebenkläger zugegangen“, sagt Uwe L. „Sie klagte immerhin auch für unser Kind. Sie suchte nie Kontakt zu uns Eltern. Ich finde, auch das ist ein Skandal und zeigt auf, wie unangenehm der Fall für den Staat zu sein scheint.“
Die Staatsanwältin hat, um es deutlich zu sagen, nichts falsch gemacht. Es ist nicht ihre Aufgabe, Anteil zu nehmen an dem Leid der Angehörigen. Sie darf sich nicht beeinflussen lassen und muss sich an Beweisen orientieren. So ist die juristisch korrekte Vorgehensweise. Ein Verbot der Anteilnahme gibt es aber auch nicht.
Aufgeklärt wird nur, was Gegenstand der Anklage ist
Ronjas Eltern waren während des Prozesses dabei, ein Plädoyer zu entwerfen. Sie hätten gefordert, dass jemand Verantwortung übernimmt für den Tod der Tochter. Sie hätten gesagt, dass Ronja ein Opfer von Unwissenheit und schlechter Organisation geworden sei. Dass das Material für die Rettung absolut unzureichend gewesen sei und dass keiner der Beteiligten über das Wissen zu dieser Rettung verfügt habe. Doch dann blieb ihnen keine Zeit, die richtigen Worte zu finden. Vier Verhandlungstage waren angesetzt. Nach drei Tagen beendete der Richter zum Entsetzen der Eltern das Verfahren und sprach sein Urteil. Im Prozess wurde nur über einen bestimmten Zeitraum verhandelt: ab dem Moment, in dem entschieden wurde, die Bahn anzuheben, bis zu ihrem Absturz. Und nur bedingt wurde über die Frage verhandelt, warum es zu dieser Entscheidung der Feuerwehr kam.
„Wir dürfen nur aufklären, was Gegenstand der Anklage ist“, sagt die Gerichtssprecherin Lisa Jani. „In dem Moment, in dem sich deutlich ein Freispruch abzeichnet, ist die Beweisaufnahme abzuschließen. Wenn sich in einem Verfahren herausstellt, dass es nicht die Angeklagten waren und jemand anderes verdächtigt wird, dann muss die Staatsanwaltschaft prüfen, ob sie neue Ermittlungen einleitet.“
Die Staatsanwältin, die die Ermittlungen leitete, hätte erläutern können, warum sie und die Polizei sich in ihren Ermittlungen nur auf die Feuerwehr konzentrierten, nicht aber auf die BVG. Ob sie vorhat, ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Mitarbeiter der BVG einzuleiten. Aber sie lehnte ein Gespräch mit der Berliner Zeitung ab.
Es sei möglich, dass aus einem abgeschlossenen Verfahren neue Ermittlungsverfahren resultieren, sagt Mona Lorenz, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Ob das wahrscheinlich ist in diesem Fall, vermag sie nicht zu sagen. Es sei schwierig, weil es keine einfache Kausalkette, sondern viele unglückliche Umstände gebe, die zu diesem Ereignis geführt hätten. „Es kann noch einige Wochen dauern, bis der Staatsanwaltschaft die Akten mit dem schriftlichen Urteil wieder vorliegen. Erst dann können wir genau prüfen, ob konkrete Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten anderer Personen vorliegen“, sagt Lorenz. Juristen bezeichnen das als Urteilsabsetzungsfrist.
Während sich die Juristen mit Fristen beschäftigen, die einzuhalten sind, grübeln Ronjas Eltern weiter, denken darüber nach, was gewesen wäre, wenn am Unfallort anders entschieden worden wäre. Sie glauben, dass man noch hätte warten können mit dem Anheben des Waggons, denn Ronja sei ansprechbar gewesen. Ronjas Zustand habe sich eingetrübt, argumentierten die Feuerwehrleute vor Gericht, es sei sehr wahrscheinlich gewesen, dass sie lebensgefährliche innere Verletzungen erlitten hatte. Wie es wirklich war, lässt sich nicht feststellen. Auch die Notärztin wollte sich im Prozess nicht festlegen. Der Einsatzleiter Torsten B. musste am 12. Juni 2018 eine einsame Entscheidung treffen.

881 Tage später sitzt Torsten B., Brandoberamtsrat, 49 Jahre alt, im Schulungsraum der Feuerwache Treptow. Ein paar Tische, ein paar Stühle, Torsten B., kurze graue Haare, ein nüchterner Typ, der jeden Satz akkurat formuliert, trägt Uniform. Vom Einsatzleiter war er nach dem Tod des Mädchens erst zum Zeugen geworden, dann zum Beschuldigten und schließlich zum Angeklagten vor Gericht.
Seit 23 Jahren ist er Feuerwehrmann. Er hat Schlimmes erlebt in dieser Zeit. Er habe es gelernt, die Probleme, die mit Einsätzen verbunden sind, nicht mit nach Hause zu nehmen, sagt er. Den Fall Ronja hat er mit nach Hause genommen. „Allein schon deshalb, weil meine eigene Tochter ein Jahr älter ist. Aber für uns alle ist das eine brutale Erfahrung gewesen, das ging über die Belastungsgrenze hinaus.“ Mit „uns alle“ meint er seine Kollegen und sich selbst. Torsten B. sagt, dass er nach Ronjas Tod leer im Kopf gewesen sei. Dass er mehrere Wochen lang nicht arbeiten konnte, schlaflose Nächte hatte. Mehrere seiner Kollegen sind bis heute berufsunfähig. Ihn bewege das, was vor Gericht über die Verantwortung der BVG zutage gekommen sei, sagt er. Und er frage sich, warum er als Beschuldigter auf die Anklagebank musste.
Torsten B. hat im Gerichtssaal Ronjas Eltern gegenübergesessen. Schon zu Beginn des Prozesses haben sie ihm gesagt, dass sie gegen ihn persönlich keinen Groll hegten, die Feuerwehr habe nur helfen wollen. „Dass sie mich nicht persönlich für Ronjas Tod verantwortlich machen, das macht es für mich ein Stück erträglicher“, sagt der Feuerwehrmann.
Viele Prozessbeobachter sind sich einig, dass im Fall Ronja ein Organisationsverschulden vorliegt. Doch nach dem Strafrecht können nur Menschen in ihrer persönlichen Schuld angeklagt werden, keine Organisationen. Der Begriff Organisationsverschulden wird nur im Zivilrecht verwendet. Ronjas Eltern könnten die beiden Staatsunternehmen BVG und Feuerwehr vor einem Zivilgericht auf Schmerzensgeld verklagen. Für den Tod eines geliebten Menschen kann man kein Schmerzensgeld verlangen, manchmal aber für den erlittenen „Schockschaden“ – wenn jemand den Tod des Menschen unmittelbar miterleben musste. Eine Schmerzensgeldklage wäre aber ein beschwerlicher Weg, die Erfolgsaussichten sind schlecht. Die Eltern müssen jetzt schon fast 4000 Euro Anwaltskosten tragen.
„Auch die Führungskräfte sind für Fortbildung verantwortlich“
Wenn Feuerwehr und BVG bisher gemeinsam das Anheben einer Straßenbahn und das Menschenretten übten, dann nur auf dem Betriebshof gewissermaßen unter Laborbedingungen auf Beton, nicht aber im Schotterbett. Viele Übungen wurden in der Vergangenheit von der BVG abgesagt, wie vor Gericht herauskam. Die Feuerwehr forderte diese aber auch nicht ein. „Wenn nicht mehr trainiert werden kann, hat das knallharte Konsequenzen“, sagt der SPD-Abgeordnete Tom Schreiber, der seit Jahren auf die Probleme hinweist. „Die Feuerwehr ist kaputtgespart worden. Deshalb gibt es noch immer einen riesigen Personalmangel nicht nur im ausrückenden, sondern auch im rückwärtigen Bereich, zu dem auch die Feuerwehrschule gehört. Und Fortbildung kostet Zeit und braucht Manpower“, sagt er. „Allerdings sind auch die Führungskräfte dafür verantwortlich, dass die Zeit für verpflichtende Fortbildung gefunden wird.“
Jetzt soll sich das ändern. Es soll endlich Fortbildungen geben, nicht nur zu den Fahrzeugtypen der Straßenbahn, auch zu denen der S- und U-Bahn, zu Regionalbahnen und ICE. Solche Schulungen hat es seit zwölf, dreizehn Jahren nicht mehr gegeben. Die BVG hat für eine Million Euro einen neuen Kran bestellt. Die Feuerwehr schafft sich einen „Gerätewagen Schiene“ an. Auch die Rüstwagen der Feuerwehr sind mit zusätzlichem Material zum Abstützen angehobener Waggons ausgestattet worden. Die BVG stellte der Feuerwehr kürzlich die notwendigen Werkzeuge und Materialien zum Anheben einer Straßenbahn zur Verfügung.
„Der Unfall war der Anlass, alles auf den Prüfstand zu stellen“, sagt die BVG-Sprecherin Petra Nelken, die versichert, dass der Unfall auch ihre Mitarbeiter erschüttert habe. „Es war eine furchtbare Situation, und jeder vor Ort wollte dem Kind so schnell wie möglich helfen.“ Nach dem Unfall werde nun die Ausbildung neu konzipiert, die Alarmierungsketten seien angepasst worden. In den vergangenen drei Jahren sei der Kran nur sechs Mal angefordert worden und nur ein Mal zum Einsatz gekommen, sagt Nelken. „Künftig wird er bei Personenunfällen immer losfahren, unabhängig davon, ob es die Situation erfordert.“
Feuerwehr und BVG haben zudem eine Kooperationsvereinbarung geschlossen. Es wird gemeinsame Übungen geben. Die knapp 100 Einsatzleiter der Berliner Feuerwehr werden darin unterwiesen, wer bei solchen Havarien wofür zuständig ist. Die Vereinbarung regelt jetzt, wer die Fachkompetenz der BVG an der Einsatzstelle hat, nämlich ein Mitarbeiter der Havariegruppe der BVG und nicht der Verkehrsmeister. Denn die Feuerwehrleute vor Ort sind bei einer Havarie meistens auf Fachberater angewiesen – ob im Forschungsreaktor Wannsee oder bei der Bahn oder bei der Straßenbahn, wo es unterschiedliche Wagentypen gibt.
„Ja, jetzt wissen wir’s“, sagt Torsten B. im Schulungsraum und schließt kurz die Augen.
Eine staatliche Behörde und ein staatliches Unternehmen haben dazugelernt. Ronja ist tot.