Maria und ihre beiden Söhne. Nikolas (l.) und Arvid haben in der Pandemie oft zurückstecken müssen.
Maria und ihre beiden Söhne. Nikolas (l.) und Arvid haben in der Pandemie oft zurückstecken müssen. Gerd Engelsmann

Maria ist keine routinierte Schreiberin von Beschwerdebriefen. Dennoch hat die kürzlich getroffene Berliner Entscheidung, die Schüler in der Hauptstadt bis zu den Sommerferien im Wechselunterricht zu lassen, das Fass bei ihr zum Überlaufen gebracht. Maria hat zwei Söhne, der ältere, Nikolas, besucht die sechste Klasse einer Grundschule, Arvid, acht Jahre alt, die dritte Klasse.

Wechselunterricht – das klingt nach Struktur, nach sinnvollem Tun, nach einem geregelten Tagesablauf, nach Bildungsgerechtigkeit unter Pandemievorzeichen eben. Doch mit zwei Kindern, Vollzeitjob und ohne weitere Hilfe wird nicht selten Chaos draus, ein Balancieren entlang des Nervenzusammenbruchs. Die Notlösung ist zum Dauerbrenner geworden, die Last tragen alleinerziehende Mütter wie Maria und ihre Kinder viele weitere Wochen, während um sie herum Biergärten öffnen und vielerorts wieder Normalität einkehrt. Wie fühlt sich das an, nach 15 Monaten Ausnahmezustand noch eine Extrarunde drehen zu müssen? Sich zu strecken und doch kaum Kraft zu haben, alles unter einen Hut zu bekommen? Marias Nerven sind blank gewetzt.

Maria hat also einen Brief an die Schulsenatorin geschrieben: „Ich bin alleinerziehende Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern. Mein Großer leidet unter ADHS und einer Rechtschreibstörung. Nachdem er schon im letzten Schuljahr monatelang im Homeschooling verbringen musste und der so vermittelte Schulstoff einfach als bekannt vorausgesetzt wurde, durfte er auch in diesem Schuljahr bereits monatelang im Homeschooling sein, um nun seit Anfang März für Monate nur 2,5 Stunden pro Tag in die Schule zu können, genauso wie sein kleiner Bruder.“

Der Große, das ist Nikolas, ein 13-jähriger Junge mit wilden halblangen Haaren und wachen braunen Augen. Eigentlich hat er jetzt keine Zeit für ein Gespräch, er muss los, ist verabredet. Es ist Frühling, Himmel noch mal, er muss rennen. Als das Foto im Kasten ist, sprintet er los.

„Seit Monaten haben die Jungs keinen Sportunterricht gehabt, dabei ist dieses Fach das einzige in dem er eine Eins hat“, sagt Maria. In den anderen Fächern ging es während der Pandemie für Nikolas notenmäßig nur in eine Richtung: bergab. Denn auf der Privatschule, an der Nikolas war, wurde das komplette Pensum digital durchgezogen. Wer da nicht strukturiert und fleißig war, musste zusehen, wie er durchkommt. „Zu Hause lernen war schlimm, immer nur am Computer sitzen“, sagt Nikolas. Nur einen Klick entfernt lockten stets und ständig YouTube und Co. Die Privatschule, die Nikolas besuchte, war weit in Sachen Digitalisierung. Nikolas aber war es nicht. Während die Lehrer ihr Programm durchzogen, stieg Nikolas irgendwann aus.

Vielleicht hätte eine andere Familienkonstellation dabei helfen können, den abgehängten Schüler an Bord zu halten? Doch als alleinerziehende Mutter, die ihre Familie versorgen muss, die eine anspruchsvolle Arbeit hat, die nicht immer im Homeoffice arbeiten kann, kam Maria irgendwann an ihre Grenzen.

Das ist sozial so unglaublich ungerecht, dass ich vor Wut am liebsten schreien würde.

Maria

„Nur Bilderbuchfamilien, in denen ein Elternteil des Akademikerelternpaares, zumeist die teilzeitarbeitende Mutter, sich aufwendig um die Schulbildung der Kinder kümmert, können gewährleisten, dass die Kinder nicht auf der Strecke bleiben. Das ist sozial so unglaublich ungerecht, dass ich vor Wut am liebsten schreien würde!“, schreibt Maria in ihrem Brief.

„Wenn ich nicht so unglaublich erschöpft, ohnmächtig und zeitlich verbraucht wäre, würde ich dementsprechend eine politische Bewegung auf die Beine stellen.“

Doch anstatt eine Revolution zu starten, zieht Maria die Reißleine und lässt Nikolas in die sechste Klasse an einer anderen Schule zurückversetzen. „Es ging schulisch gar nichts mehr, er schrieb nur noch Fünfen und Sechsen. Aber nicht nur für Kinder wie Nikolas mit Lern- und Strukturschwierigkeiten wird es allmählich unmöglich jemals wieder Anschluss zu finden“, glaubt Maria. Vor allem, wenn Lehrpläne so durchgezogen werden wie geplant. Ohne Rücksicht auf Verluste.

Kinder und Mütter im Krisenmodus

Wenig Rücksicht und einige Verluste, das gab es im vergangenen Jahr in vielerlei Hinsicht: Arvid, Marias jüngerer Sohn, darf seit Monaten seine beiden besten Freunde nicht sehen, weil sie in einer anderen Gruppe Unterricht haben. Auf einem Spielplatz hat ihnen eine ältere Frau zugerufen, sie sollen verschwinden, ansonsten rufe sie die Polizei. Dass die Jungen für die Alten zurückstecken – noch immer – war ihr nicht aufgefallen.

Die Pandemie hat vor allem bei Müttern Zeit, die sie eh nie im Überfluss hatten, noch weiter beschnitten. Zeit für Regeneration blieb keine. Regeln sind für Standardlebensmodelle gemacht, noch so eine Erkenntnis. Wie auch die, dass Arbeiten im Homeoffice und gleichzeitiges Homeschooling unmöglich ist.

Muttersein soll unsichtbar bleiben

Maria hat in den letzten anderthalb Jahren vieles gleichzeitig bewerkstelligen müssen: Kochen, Einkaufen, berufsbegleitend Studieren, alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Kinder halbwegs unbeschadet durch diese Zeit kommen. Sie hat in Zoom-Konferenzen auf Lautlos gestellt, um nebenbei bei den Hausaufgaben zu helfen, zu trösten. Nach außen hin aber soll Muttersein unsichtbar bleiben.

„Ich frage mich schon: Was wird aus meinen Kindern?“, sagt Maria. „Ist dies der Einschnitt in ihrer Bildungslaufbahn, der Dinge verändert? Der Lernrückstand ist enorm und in diesem System wiegt er schwer.“

Dass es in Berlin nicht möglich sein soll, kurzfristig bei sinkenden Inzidenzen zur Normalität zurückzukehren, macht Maria fassungslos. In dem Bundesland, in dem Tausende arme Kinder zu den Pandemieverlierern gehören, in dem die Lobby der Lehrer lauter ist, als die der Kinderschützer. „Die, die seit Monaten am meisten unter den Regularien zur Eindämmung der Pandemie leiden, sind zu eingespannt und abgekämpft, um sich auch nur noch ansatzweise dagegen aufzulehnen“, sagt sie.

Petition fordert Rückkehr zum normalen Unterricht

Einige Eltern, denen es ebenso geht wie Maria, haben eine Online-Petition gestartet. Sie fordern die schnelle Rückkehr zum Präsenzunterricht bei niedrigen Inzidenzen. Denn besonders die Begründung der Schulverwaltung, die Schulen weiter nur mit halber Kraft zu fahren, ist irritierend: Es solle „eine zusätzliche Belastung der Schulen“ vermieden werden. Doch die „Belastung der Schulen“ verschwindet nicht. Sie wird lediglich von den Schulen auf Kinder und Eltern übertragen.