Ärztemangel in Gesundheitsämtern: Wie deutsche Finanzminister unserer Gesundheit und Sicherheit schaden
Mediziner in Deutschlands Gesundheitsämtern werden schlechter bezahlt als in Kliniken: Kein Wunder, dass ein Viertel der Facharzt-Stellen in Berlins Ämtern nicht besetzt ist.

Entscheidungen der Politik sind transparent und nachvollziehbar. Wird gern behauptet. Wer allerdings herausfinden will, warum Fachärzte in Berlins Gesundheitsämtern schlechter bezahlt werden als ihre Kollegen im Krankenhaus, der läuft gegen Gummiwände. Nur die Folge der Schlechterstellung ist eindeutig: Zum Stichtag 31. 12. 2021 waren von den insgesamt 399,46 vorgesehenen Arztstellen 112,6 unbesetzt, vermeldet die Senatsverwaltung für Gesundheit. Mehr als jede vierte Arztstelle in den bezirklichen Gesundheitsämtern war also frei.
Riesiger Aufgabenkatalog für Ärzte in den Gesundheitsämtern
Ein Blick ins Gesetz macht deutlich, was das Fehlen von Ärzten im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) zum Schaden der Berliner für Lücken reißt: So sind die Gesundheitsämter unter anderem zuständig für die Überwachung der Hygiene in Krankenhäusern, für den Infektionsschutz oder den Schutz vor Gesundheitsgefährdungen durch Chemikalien.
Sie sind am Katastrophenschutz und der Schädlingsbekämpfung beteiligt, sollen das Bestattungswesen kontrollieren und sich breit und vorbeugend um die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern, psychisch kranken und behinderten Menschen kümmern.
Wer das ganze Spektrum der Aufgaben sehen will, klickt hier. Es gibt viel zu lesen.
Gudrun Widders (64) leitet das Gesundheitsamt Spandau. Die Amtsärztin ist Vizevorsitzende im berlin-brandenburgischen Landesverband der Ärzte im öffentlichen Gesundheitsdienst und zu diesem Thema deutlich genervt.

Allein in ihrem über Spandau verstreuten Amt sind 7,25 von 24 Arztstellen nicht besetzt. Es mangelt an Fachärzten unter anderem beim Infektionsschutz, im Kinder- und Jugend-Gesundheitsdienst, im sozialpsychiatrischen Dienst. Da freut sie sich, dass gerade zwei Ärzte ihren Arbeitsvertrag unterschrieben haben.
Widders fächert auf, dass verschiedenste Gremien – von der Vereinigung der Kommunalen Arbeitgeber, vom Landkreistag, dem Städte- und Gemeindebund bis zur Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) – seit Jahrzehnten bundesweit auf der Bremse stehen, wenn es um einen eigenen Ärztetarif für den Öffentlichen Gesundheitsdienst geht.
Wegen des unendlich verwickelten bundesweiten Tarifwesens soll der Einfachheit halber jetzt nur von der TdL die Rede sein: Über deren Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst ist auch die Bezahlung der Fachärzte in den Berliner Gesundheitsämtern geregelt ist.
Und zwar so, dass sie Verwaltungsmitarbeitern gleichgestellt sind.
Große Worte der Gesundheitsminister vor zwölf Jahren. Effekt? Null!
Widders: „Schon 2010 hat die Gesundheitsministerkonferenz von Bund und Ländern beschlossen, der ÖGD müsse gestärkt werden und es müsse einen Ärztetarif für den ÖGD geben. ‚Toll!‘ war damals der Eindruck. Jetzt haben wir 2022 – und es hat sich nichts geändert.“

Vor wenigen Wochen hat sich Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erneut für einen eigenen Ärztetarif ausgesprochen. Widders sieht die Erfolgsaussichten skeptisch.
Denn auch der „Pakt für den ÖGD“, den Bund und Länder im September 2020 eingingen und der dem System bundesweit vier Milliarden Euro verschaffen soll, habe trotz darin enthaltener Lobeshymnen wegen der Leistungen in der Corona-Pandemie an der tariflichen Situation der Ärzte im ÖGD ebenfalls nichts geändert.
Die einen Minister beschließen etwas, den anderen Ministern ist der Beschluss gleichgültig
Warum es nicht voran geht, das verschwindet zunächst im Nebel. Offenkundig ist nur, dass die Finanzminister der Länder einen Ärzte-Tarifvertrag für den ÖGD blockieren.
Das niedersächsische Finanzministerium, dessen Pressestelle für die TdL spricht, verweist bei der Bitte nach Nennung der Gründe für die Berliner Misere kurz und knackig auf die Berliner Kollegen. Man möge dort nachfragen.
Große Geheimniskrämerei, warum die Finanzminister keinen Ärztetarif wollen
Die hiesige Senatsverwaltung für Finanzen von Daniel Wesener (Grüne) antwortete etwas umfangreicher, aber ebenso unbefriedigend: „Berlin hat das Thema im Herbst 2017 in die Mitgliederversammlung der TdL eingebracht. (…) Es gab dort aber keine Mehrheit für die Aufnahme von Tarifverhandlungen. Zu den Positionierungen und zum Abstimmungsverhalten der einzelnen Länder innerhalb der TdL dürfen wir keine Auskunft geben.“
Das Anliegen sei 2020 nochmals erörtert worden, weil die Ärztegewerkschaft Marburger Bund auch in Bayern und Baden-Württemberg Verhandlungen über einen Tarifvertrag aufnehmen wollte. Das Ergebnis sei das gleiche gewesen.
Die Gesundheitsverwaltung von Senatorin Ulrike Gote (Grüne) erging sich auf Anfrage des KURIER betreffend eine bessere Bezahlung der Ärzte breit über die Notwendigkeit, die nutzbringende Tätigkeit des ÖGD der Bevölkerung bekannt zu machen. Beim Thema Geld für die Ärzte aber blieb sie zurückhaltend: „Auch die Einführung eines Ärzt:innentarifvertrags für den ÖGD wäre sicherlich ein geeignetes Mittel.“
Ein wenig Licht ins Dunkel bringen Hans-Jörg Freese, Sprecher des Marburger Bunds, und dessen Tarif-Experte Christian Twardy.
Geheime Protokolle, geheime Entscheidungsgründe bei Tarifentscheidungen
Sie verweisen darauf, dass die Finanzminister Tarifangelegenheiten an Mitarbeiter ihrer Ministerien delegieren, die sie in der Tarifgemeinschaft der Länder vertreten. Und diese anonyme Truppe, deren Abstimmungsverhalten geheim gehalten wird, exekutiere eine über 15 Jahre alte Zielsetzung: Keine Extrawürste innerhalb der Tarifverträge.
Das liege daran, so Twardy, dass der Marburger Bund es 2006 in schweren Auseinandersetzungen inklusive Ärztestreik geschafft habe, den Ärzten an Unikliniken einen Tarifvertrag zu verschaffen.
Danach hätten sich die Bundesländer geschworen, derlei Sonderregelungen nie wieder zuzulassen. Und deshalb guckten die Ärzte im ÖGD finanziell immer noch in die Röhre.
Ein Arzt im Krankenhaus hätte folglich in der Regel kein Interesse, in den ÖGD zu wechseln, weil er plötzlich einem Verwaltungsmitarbeiter gleichgestellt wird und sofort etwa 1000 Euro weniger verdient.
War der Mediziner in der Klinik Oberarzt, ist der Verlust noch größer. Auch die Ärzte im Medizinischen Dienst der Krankenkassen bekommen laut Freese 1000 bis 1500 Euro mehr als ein ÖGD-Mediziner.
Schlechte Bezahlung nach zwölf Jahren Aus- und Weiterbildung
Zur Erinnerung: Gesucht werden Fachärzte, die nach der Schule studiert und dann die Facharzt-Weiterbildung absolviert haben, was insgesamt etwa ein Dutzend Jahre in Anspruch genommen hat. Und die – siehe oben – eine sehr breite Aufgabenpalette zu bewältigen haben.
Da müssen die Bezirke schon sehr mit geregelten Arbeitszeiten, bezuschussten Firmentickets oder Sportkursen in der Arbeitszeit winken, um überhaupt jemanden anlocken zu können.
Der Berliner Senat griff deshalb in die Trickkiste, um den Dienst im Gesundheitsamt finanziell attraktiver zu machen, musste dafür sogar noch mühselig den Widerstand des Berliner Hauptpersonalrats vor Gericht wegklagen.
Berlin will nicht noch einmal aus der Tarifgemeinschaft der Länder rausfliegen
Der Trick: Der Senat vereinbarte keinen eigenen Tarifvertrag, weil er unbedingt vermeiden will, noch einmal wie 1994 bis 2013 aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausgeschlossen zu werden – damals wegen der West-Bezahlung von Ost-Beschäftigten.
Vielmehr kann seit Februar 2020 in „begründeten Einzelfällen“ neu eingestellten Fachärzten in den Gesundheitsämtern per „Sonderarbeitsvertrag“ außertariflich ein Gehalt in Höhe dessen gezahlt werden, was ein Arzt an einer Uniklinik bekommt.
Im ersten Jahr sind das laut Twardy rund 6500 Euro. Die niedrigste Stufe im Tarifvertrag der Länder liegt dagegen deutlich unter 5000 Euro brutto.
Laut Senatsverwaltung ist für den Abschluss solcher Verträge aber ein Rattenschwanz von Bedingungen zu erfüllen, und so gelang es gerade einmal, mit Stand 1. März 2022 exakt sechs in ganz Berlin abzuschließen.
Nur wer sich erfolgreich aus Berlin wegbeworben hat, kann sein Gehalt aufbessern, wenn er dann doch bleibt
Ebenfalls im „begründeten Einzelfall“ können bereits eingestellte Fachärzte eine monatliche Zulage von bis zu 1000 Euro bekommen. Eine Regelung, die bislang 57 Medizinern gewährt werden konnte, aber Ende 2023 auslaufen wird.

Widders wird ihr nicht nachtrauern: „Sie wird nicht rentenwirksam und sorgt für Unmut, wenn sich Kollegen gegenübersitzen, die gleich qualifiziert sind, aber unterschiedlich viel verdienen.“
Vor allem aber sei der Weg zu dieser Zulage für das Bestandspersonal laut Widders verwinkelt: „Die Kollegen müssen sich erst außerhalb Berlins erfolgreich beworben haben, um dann in Berlin in den Genuss der außertariflichen Regelung kommen zu können.“